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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Zivilprozeß

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Zivilprozeß (Arten, Hauptgrundsätze des deutschen Zivilprozesses).

Rechtszustandes auf dem zivilprozessualischen Gebiet hatte schon 1862 zu einem Beschluß des Bundestags Veranlassung gegeben, wonach in Hannover ein 1866 veröffentlichter Entwurf zu einer allgemeinen deutschen Zivilprozeßordnung ausgearbeitet ward. Allein die zu Hannover tagende Kommission war von Preußen nicht mitbeschickt worden, vielmehr wurde in Berlin ein »Entwurf einer Prozeßordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für den preußischen Staat« aufgestellt. Nach der inzwischen erfolgten Gründung des Norddeutschen Bundes wurde dann unter Berücksichtigung des hannöverschen und des preußischen Entwurfs der Entwurf einer Prozeßordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für den Norddeutschen Bund ausgearbeitet. Nach der Errichtung des neuen Deutschen Reichs endlich beschloß der Bundesrat behufs definitiver Feststellung eines deutschen Zivilprozeßentwurfs die Einsetzung einer aus zehn Mitgliedern gebildeten Kommission, welche unter dem Vorsitz des preußischen Justizministers Leonhard zusammentrat und ihre Arbeiten 7. März 1872 abschloß. Der Entwurf der deutschen Zivilprozeßordnung ward dann von dem Reichstag samt den Entwürfen einer deutschen Strafprozeßordnung und eines deutschen Gerichtsverfassungsgesetzes einer besondern Kommission von 28 Mitgliedern (der sogen. Justizkommission) überwiesen, von welcher er im Herbst 1876 vor das Plenum des Reichstags gelangte, welches ihn fast mit Stimmeneinhelligkeit annahm. Die Publikation der nunmehrigen deutschen Zivilprozeßordnung erfolgte 30. Jan. 1877. Sie trat 1. Okt. 1879 gleichzeitig mit der Strafprozeßordnung, dem Gerichtsverfassungsgesetz und mit der Konkursordnung in Kraft. Zur vollständigen Normierung des deutschen gerichtlichen Verfahrens in einheitlicher Weise sind noch das Gerichtskostengesetz vom 18. Juni 1878, die Gebührenordnung für Gerichtsvollzieher vom 24. Juni 1878, die Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige vom 30. Juni 1878, die deutsche Rechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1878 und die Gebührenordnung für Rechtsanwalte vom 7. Juli 1879 hinzugekommen. Auf diese Weise ist auf dem Gebiet des Zivilprozeßrechts die lang ersehnte Rechtseinheit in Deutschland hergestellt.

Auch für das cisleithanische Österreich ist eine auf den Grundsätzen der Mündlichkeit des Verfahrens und der freien Beweiswürdigung durch den Richter beruhende Zivilprozeßordnung in Vorbereitung (Entwürfe von 1876 und 1881). Der frühere Justizminister Glaser (s. d. 2) hat sich um die hierauf bezüglichen Vorarbeiten besonders verdient gemacht. Sein Entwurf schließt sich zwar vielfach der deutschen Zivilprozeßordnung an, ist aber gleichwohl eine selbständige Leistung, indem er namentlich die Berufung nur noch gegen Urteile der Einzelrichter zuläßt und die formellen Parteieide durch die eidliche Vernehmung der Parteien ersetzt. Gegenwärtig beruht der österreichische Z. noch immer auf der Josephinischen Gerichtsordnung von 1781 und auf der damit wesentlich übereinstimmenden westgalizischen Gerichtsordnung (für Galizien, Bukowina, Tirol und Vorarlberg, Istrien, Triest und Dalmatien) von 1797. Dazu kommen dann neuere Verordnungen und Spezialgesetze, namentlich das Gesetz vom 27. April 1873 über das Verfahren in Bagatellsachen (bis zur Höhe von 50 Guld.). Durch seine Kostspieligkeit und Weitläufigkeit ist das englische Prozeßverfahren auf dem Kontinent in übeln Ruf gekommen und auch in England selbst vielfach angegriffen worden. Dasselbe kennt nämlich auch im Z. die Mitwirkung von Geschwornen. In neuerer Zeit haben aber verschiedene Prozeßgesetze (von 1852, 1873, 1875, 1876) wirksam eingegriffen. Dazu kommt die Einrichtung der County-Courts (Grafschaftsgerichte) für Streitsachen bis 50 Pfd. Sterl. Wert, von denen Beweisfragen auch durch den Richter ohne Zuziehung der Jury entschieden werden können.

[Arten des Zivilprozesses.] Der Z. zerfällt in den ordentlichen und den summarischen (schleunigen) Prozeß. Dazu kommt noch das Verfahren im Konkurs (s. d.) der Gläubiger (Konkursprozeß). Während im ordentlichen Prozeß die Parteien ihre Rechtsbehelfe uneingeschränkt zur Anwendung bringen können, kommt es im summarischen Verfahren auf schleunige Beweisführung an, und Angriffs- und Verteidigungsmittel, bei welchen es an dieser Möglichkeit fehlt, sind ausgeschlossen. Die deutsche Zivilprozeßordnung kennt in dieser Hinsicht den Exekutiv- oder Urkundenprozeß (s. d.), zu welchem auch der Wechselprozeß gehört; ferner den Arrestprozeß (s. Arrest) und die einstweiligen Verfügungen (s. d.). Außerdem ist zwischen dem regelmäßigen und dem besondern Prozeßverfahren zu unterscheiden. Nach der deutschen Zivilprozeßordnung ist das ordentliche Verfahren vor dem Landgericht umständlicher als vor dem Amtsgericht im einzelrichterlichen Verfahren. Für das Verfahren vor den Landgerichten und allen Gerichten höherer Instanz besteht der sogen. Anwaltszwang, d. h. jede Partei muß sich durch einen bei dem Prozeßgericht zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen, wenn sie nicht selbst zu den Rechtsanwalten gehört (Anwaltsprozeß). Für diejenigen Rechtsstreitigkeiten (Parteiprozesse) dagegen, welche vor den Amtsgerichten verhandelt werden, besteht kein Anwaltszwang. Besondere Arten des Verfahrens sind außer dem amtsgerichtlichen (einzelrichterlichen) Z.: das Mahnverfahren (s. d.), das Verfahren in Ehesachen, in Entmündigungssachen und das vorbereitende Verfahren in Rechnungssachen, Auseinandersetzungen und ähnlichen Prozessen. In ausführlicher Weise ist ferner die gerichtliche Zwangsvollstreckung (s. d.) in der Prozeßordnung normiert bis auf die Vorschriften über die gerichtliche Hilfsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen, welche vorerst noch der Landesgesetzgebung der einzelnen Staaten überlassen sind. Dagegen enthält die Reichszivilprozeßordnung ausführliche Vorschriften über das Aufgebots- oder Ediktalverfahren u. über das schiedsrichterliche Verfahren.

[Hauptgrundsätze des deutschen Zivilprozesses.] Wie in allen Verfassungsstaaten besteht auch im Deutschen Reich und in den deutschen Einzelstaaten das Verbot der sogen. Kabinettsjustiz und das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit, Grundsätze, welche schon zur Zeit des frühern Deutschen Reichs reichsgesetzlich anerkannt waren und jetzt in allen deutschen Staaten verfassungsmäßig gewährleistet sind. Nicht nur, daß der Regent nicht selbst in den Gang des Verfahrens eingreifen darf, sondern eine Zivilprozeßsache soll auch unter keinen Umständen dem zuständigen Gericht entzogen werden. Ebensowenig darf die Rechtshilfe verweigert oder verzögert werden. In letzterer Hinsicht ist in der deutschen Reichsverfassung (Art. 77) vorgesehen, daß es, wenn in einem Bundesstaat der Fall einer Justizverweigerung eintritt und auf gesetzlichem Weg ausreichende Hilfe nicht erlangt werden kann, dem Bundesrat obliegen soll, erwiesene, nach der Verfassung und den bestehenden Gesetzen des betreffenden Bundesstaats zu beurteilende Beschwerden über