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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Erblichkeit

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Erblichkeit (Schwächen der Weidmannschen Theorie).

in die Keimmasse hineingetragenen Vererbungsrichtungen entfernt würden, so daß andre die Oberhand erhalten könnten. Es wäre dann nicht ausgeschlossen, daß dadurch auch angeborne Mißbildungen, wie Hasenscharte, Gliedmaßendefekte u. dgl., ja sogar bestimmte Krankheiten entstehen könnten, die dann als blastogene (d. h. im Keimstoff entstandene) Mangel auch erblich sein müßten, während durch äußere Ursachen, Verletzungen, Ansteckungen, Überanstrengungen gewisser Teile, z. B. des Gehirns etc., im übrigen Körper entstandene (somatogene) Mängel und Krankheiten nicht erblich sein könnten.

Es ist nach dem Gesagten leicht zu erkennen, daß für einen mit starker Phantasie begabten Forscher die Entwickelung des Naturlebens auch ohne die Voraussetzung der E. durch äußere Einflüsse erzeugter Veränderungen zu denken ist, und so erklärt sich, daß die Weismannsche Theorie in England großen Erfolg und sogar den Beifall des Mitentdeckers der Darwinschen Theorie, Wallaces, gefunden hat. In Deutschland ist man ihr kritischer entgegengetreten, und mehrere der urteilsfähigsten Forscher des darwinistischen wie des antidarwinistischen Lagers, z. B. Häckel, Fritz Müller, Virchow u. a., haben sie mehr oder minder entschieden abgelehnt. Die neue Erblichkeitstheorie weist in der That, so wünschenswert ihre Annahme wegen der Vereinfachung des Verständnisses wäre, große Schwächen auf, die darin bestehen, daß sie einmal alle Fähigkeiten in den uranfänglichen Keimstoff hineinlegt und ihn durch Verlust von Vererbungsrichtungen immer einseitiger und ärmer an Fähigkeiten, statt reicher werden läßt, während man doch nur an das geistige Vermögen der höhern Tiere zu denken braucht, um zu sehen, wie groß der wohl nur durch äußere Verhältnisse weckbare Zuwachs ist. Zweitens schlägt die Theorie aller Erfahrung des Volksurteils wie der Ärzte, welche fest von der Vererbung von außen her erworbener Fähigkeiten und Mängel überzeugt sind, ins Gesicht. Namentlich kann die E. der Geisteskrankheiten, die sicherlich nicht zu den blastogenen Krankheiten zu rechnen sind, da man die erregenden äußern Ursachen in der Mehrzahl der Fälle zu erkennen im stande ist, als Gegenbeweis angeführt werden.

Ebenso widerspricht die Naturforschung der mit so vielem Beifall aufgenommenen Lehre auf Schritt und Tritt. Die Weismannsche Theorie macht die Variabilität der Naturdinge, wie man sieht, von der geschlechtlichen Vermehrung abhängig. Nun geht aber die allgemeine Erfahrung der Naturforscher dahin, daß die niedersten pflanzlichen und tierischen Wesen sich durchweg auf ungeschlechtlichem Wege vermehren. Es hätten demnach niemals höhere Wesen und also auch keine mit geschlechtlicher Vermehrung entstehen können, wenn dieselbe streng richtig wäre. Ferner würden ohne geschlechtliche Vermehrung niemals Varietäten entstehen können. Es ist aber im Gegenteil bekannt, daß die meisten Spielarten unsrer Bäume, z. B. die Blutbuchen, Trauerformen, die Arten mit panaschierten, weißen, zerschlitzten Blättern, besondere Frucht- und Blütenformen, am häufigsten an einzelnen Ästen und Zweigen eines Gewächses aufgetreten sind, ohne daß Ausstoßung von Richtungskörperchen u. dgl. ins Spiel treten konnte. Fritz Müller hat auf besondere regelmäßige Veränderungen hingewiesen, die an Bananen eintreten, wenn sie den Boden an gewissen Bestandteilen erschöpft haben, und die sich erhalten, auch wenn dieselben wieder in bessern Boden verpflanzt werden. Auch der erbliche Rückschritt der Organismen durch Nichtgebrauch einzelner Organe scheint schwer mit der Lehre Weismanns in Einklang zu bringen, doch hat derselbe zur Erklärung eine besondere Theorie erdacht (s. Rückschritt).

Als eigentlicher Prüfstein sollte die Nichterblichkeit der Folgen von Verletzungen dienen, weil man in vielen Fällen von schwanz- und hornlosen Nachkommen solcher Tiere gesprochen hatte, die durch gewaltsame Eingriffe dieser Teile beraubt worden waren. Auf der Insel Man züchtet man seit langer Zeit schwanzlose Katzen, in Brasilien eine hornlose Rinderrasse, und es wurde dann wohl erzählt, bei welcher Gelegenheit die Stammart diese Teile verloren hatte. Um hierüber zu einem beweiskräftigen Ergebnis zu kommen, legte Weismann eine Zucht weißer Mäuse an, denen regelmäßig die Schwänze abgehackt wurden, ohne daß unter 849 aus der Paarung solcher verstümmelter Eltern erzielten Jungen auch nur ein einziges Stück mit Stummelschwanz oder sonstiger Schwanzmißbildung gefunden worden wäre. Dieses Ergebnis konnte aber vorausgesehen werden und ist thatsächlich vorausgesagt worden, denn wir wissen, daß bei niedern wirbellosen Tieren ziemlich allgemein und selbst noch bei niedern Wirbeltieren, wie Molchen und Eidechsen, verloren gegangene Beine und Schwänze schon während des Lebens neu ergänzt werden; es wäre demnach geradezu zu verwundern, wenn eine solche Ergänzung nicht wenigstens bei der vollständigen Verjüngung des Vorfahren im Neugebornen eingetreten wäre. Ganz falsch ist daher der Schluß, daß mit solchen Versuchen die Nichterblichkeit von Verletzungen und deren Folgen wirklich bewiesen sei.

Schon lange vorher war aus den diesbezüglichen Erfahrungen von Darwin und andern Forschern geschlossen worden, daß Verletzungen und andre gewaltsame Eingriffe nur dann Anlaß zu erblichen Folgen geben, wenn sie ein langwieriges Siechtum erzeugen und damit Einfluß auf die Körperkonstitution gewinnen. Darum sind besonders Nervenverletzungen in ihren dem Zentrum nähern Teilen, indem sie die Ernährungsthätigkeit der von ihnen versorgten Organe stören, leicht von erblichen Folgen begleitet, und Brown-Séquard hat den Mißerfolgen von Weismann eine trotz ihrer großen Zahl noch höhere Summe von Beispielen mit vorhergesagter erblicher Folge vorausgehen lassen, indem er durch Verletzung von Nervensträngen bei Meerschweinchen ganz bestimmte erbliche Folgeübel erzeugte. Wenn aber schon durch so jähe Eingriffe von außen her Erbkrankheiten erzeugt werden können, wieviel sicherer müssen dann die langsamen konstitutionellen Veränderungen vererbt werden, die durch Aufenthalts- und Klimawechsel, veränderte Nahrung und Lebensweise sowie durch andre, jahrhundertelang fortgesetzte äußere Einflüsse auf die Organismen erzeugt wurden! Und da durch die letztern die Mannigfaltigkeit der Organismen in ihrer Gestalt und Färbung, Ausrüstung und Anpassung an bestimmte Lebensverhältnisse, z. B. der Blumenformen an bestimmte Insekten, die ihre Befruchtung vollziehen, viel leichter verständlich wird, so muß mit doppeltem Mißtrauen eine neue Lehre geprüft werden, die trotz ihrer zahlreichen Anhänger der Begründung durch klare Thatsachen entbehrt. Vgl. Weismann, Über die Vererbung (Jena 1883); Derselbe, Die Kontinuität des Keimprotoplasmas als Grundlage einer Theorie der Vererbung (das. 1885); Derselbe, Über die Zahl der Richtungskörper und ihre Bedeutung für die Vererbung (das. 1887); Derselbe, Über