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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Gewerbegerichte

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Gewerbegerichte (Reichsgesetz vom 29. Juli 1890).

bestimmt; er braucht der Innung nicht anzugehören. Die Annahme der Wahl zum Beisitzer kann nur aus Gründen abgelehnt werden, aus welchen die Übernahme einer Vormundschaft abgelehnt werden kann. Wer die Annahme ablehnt, ohne zu der Ablehnung berechtigt zu sein, kann von der Aufsichtsbehörde durch Ordnungsstrafen zur Annahme angehalten werden. Gegen die Entscheidungen der Schiedsgerichte steht die Berufung auf den Rechtsweg binnen 10 Tagen offen. Die Entscheidungen sind vorläufig vollstreckbar durch die Polizeibehörden nach Maßgabe der Vorschriften über die gerichtliche Zwangsvollstreckung. An dem durch § 97 den Innungen erteilten Rechte nahmen alle Innungen (bis 1886 in Preußen 6519, im übrigen Deutschland 2665) teil; von der ihnen durch § 97a gewährten Befugnis haben nur wenige Gebrauch gemacht.

Inzwischen hatte auch das Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Jan. 1877 in § 14 Nr. 4 der Landesgesetzgebung die Möglichkeit offen gehalten, ihrerseits mit der Errichtung von Gewerbegerichten vorzugehen. Einige Staaten benutzten diese Vollmacht. Am wichtigsten ist das ausführliche elsaß-lothringische Gesetz vom 23. März 1880, welches die fünf aus der französischen Zeit übernommenen G. (in Straßburg, Mühlhausen, Thann, Markirch und Metz) in glücklicher Weise reformierte. Im Königreich Sachsen wurden durch Gesetz vom 2. April 1884 fünf Bergschiedsgerichte geschaffen. Hamburg hatte schon durch Gesetz vom 10. Mai 1875 ein allgemeines Gewerbegericht eingeführt. Bremen gab sich ein solches durch Gesetze vom 30. Sept. 1877 und vom 17. April 1887.

Im Reichstag trat seit der Mitte der 80er Jahre eine sehr entschiedene Strömung zu gunsten der G. hervor. Im März 1886 wurde die Frage der G. eingehend behandelt und 24. März 1886 die Resolution von Dr. Lieber angenommen: Den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, dem Reichstag den Entwurf eines Gesetzes, betreffend die obligatorische Einführung von Gewerbegerichten, mit der Maßgabe baldthunlichst vorzulegen, daß die Beisitzer derselben zu gleichen Teilen von den Arbeitgebern und den Arbeitern in getrennten Wahlkörpern und in unmittelbarer, gleicher und geheimer Abstimmung gewählt werden. Im Januar 1888 wurde von den Abgeordneten Baumbach, Hitze und Schrader die Vorlage eines neuen Gesetzentwurfs verlangt, 12. Jan. 1889 wurde die Resolution von 1886 wiederholt.

Am 6. Mai 1890 legte der Reichskanzler von Caprivi den vom Bundesrat beschlossenen Gesetzentwurf vor, welcher an die frühern Regierungsentwürfe anknüpfte, aber in vielen Beziehungen den im Reichstag ausgesprochenen Wünschen Rechnung zu tragen suchte. Schon 9. Mai erfolgte die erste Lesung und Überweisung an eine Kommission von 21 Mitgliedern. Die Kommission erstattete nach zahlreichen Sitzungen, in denen nicht weniger als einige 60 gedruckte und über 46 handschriftliche Abänderungsanträge eingebracht wurden, 9. Juni den Bericht. Die wichtigsten Änderungen des Entwurfes durch die Kommission waren folgende: Bezüglich der Wahl der Beisitzer wurde die Bestimmung hinzugefügt, daß die Wahl direkt und geheim sein soll, die Bestätigung des Vorsitzenden durch die höhere Verwaltungsbehörde wurde ausgeschlossen bei Staats- oder Gemeindebeamten, welche ihr Amt kraft staatlicher Ernennung oder Bestätigung verwalten; die Entschädigung für Reisekosten und Zeitversäumnis der Beisitzer wurde obligatorisch gemacht; das Verfahren wurde in vielen Beziehungen noch weiter vereinfacht, das Versäumnisverfahren gänzlich umgestaltet, so daß die harten Versäumnisfolgen des ordentlichen Zivilprozesses ausgeschlossen sind; die Aufgabe des Gewerbegerichts, in erster Linie auf die Herbeiführung eines Vergleichs hinzuwirken, wurde stärker betont und obligatorisch gemacht; die Vertretung durch Rechtsanwalte oder Personen, welche das Verhandeln vor Gericht geschäftsmäßig betreiben, und die Berufung bei Streitgegenständen von 100 Mk. und weniger wurden ausgeschlossen; die Gerichtsbarkeit der G. wurde auch auf die Arbeiter der Reichs- und Staatsdruckereien, der staatlichen Münzanstalten und Eisenbahnverwaltungen ausgedehnt etc. Der so umgestaltete Entwurf wurde in zweiter (17.-24. Juni) und dritter (28. Juni) Lesung vom Reichstag in der Hauptsache angenommen und nur noch unwesentlich abgeändert. Der Bundesrat stimmte den Abänderungen zu, das Gesetz wurde 29. Juli 1890 ausgefertigt.

Die wesentlichsten Bestimmungen des Gesetzes sind folgende. Der Grundgedanke ist, in erster Linie den Gemeinden die Einsetzung der G. zu überlassen und deren Eingliederung in den Gemeindeorganismus unter Berücksichtigung der örtlichen Einrichtungen und Bedürfnisse zu ermöglichen. Man ging davon aus, daß nicht überall das Bedürfnis noch die Voraussetzungen der praktischen Durchführbarkeit von Gewerbegerichten vorhanden seien und deshalb auch die Einführung der G. nicht obligatorisch gemacht werden dürfe, und daß die Gemeinden in der Regel am besten beurteilen könnten, ob nach den gewerblichen Verhältnissen ihres Bezirks das Bedürfnis und die Voraussetzungen für die ersprießliche Wirksamkeit eines solchen Sondergerichts vorliegen. Aber man überließ den Gemeinden nicht ausschließlich die Errichtung der G., man statuierte unter besondern Umständen auch den Zwang zur Einsetzung von Gewerbegerichten gegenüber den beteiligten Gemeinden.

Die G. sollen gewerbliche Streitigkeiten zwischen Arbeitern einerseits und ihren Arbeitgebern anderseits sowie zwischen Arbeitern desselben Arbeitgebers entscheiden. Als Arbeiter im Sinne des Gesetzes gelten Gesellen, Gehilfen, Fabrikarbeiter und Lehrlinge, auf welche Titel VII der Gewerbeordnung Anwendung findet, ebenso Betriebsbeamte, Werkmeister und mit höhern technischen Dienstleistungen betraute Angestellte, deren Jahresverdienst an Lohn oder Gehalt 2000 Mk. nicht übersteigt. Die Errichtung erfolgt für den Bezirk einer Gemeinde durch Ortsstatut nach Maßgabe des § 142 der Gewerbeordnung mit Genehmigung der höhern Verwaltungsbehörde. Mehrere Gemeinden können sich durch übereinstimmende Ortsstatuten zur Errichtung eines gemeinsamen Gewerbegerichts für ihre Bezirke vereinigen. Auch kann ein Gewerbegericht für den Bezirk eines weitern Kommunalverbandes errichtet werden. Die Errichtung eines Gewerbegerichts kann aber auch auf Antrag beteiligter Arbeitgeber oder Arbeiter durch Anordnung der Landeszentralbehörde erfolgen, wenn ungeachtet einer von ihr an die beteiligten Gemeinden oder den weitern Kommunalverband ergangenen Aufforderung innerhalb der gesetzten Frist die Errichtung nicht erfolgt ist. In allen Fällen sind vor der Errichtung sowohl Arbeitgeber als Arbeiter der hauptsächlichen Gewerbezweige und Fabrikbetriebe in entsprechender Anzahl zu hören.

Die G. sind ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes zuständig für Streitigkeiten: 1) über den Antritt, die Fortsetzung oder die Auflösung des Arbeitsverhältnisses sowie über die Aushändigung oder den Inhalt des Arbeitsbuches oder Zeugnisses;