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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Österreich

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Österreich (Geschichte).

Dispositionsfonds, den ihm die deutsche Linke streitig machte, das Wort, um das Festhalten des Kabinetts an seiner bisherigen Parlamentsmajorität zu rechtfertigen; er bezeichnete es als schwierig, im österreichischen Parlament eine festgefügte, unter allen Umständen verläßliche Majorität zuwege zu bringen. Auf die Budgetdebatte übten außer dem Ausgleich die Pöbelexzesse, welche aus Anlaß des Maureraufstandes in den westlichen Vororten Wiens 8. April stattfanden und wobei infolge verspäteten Einschreitens der Polizei einige Läden jüdischer Branntweinschänker geplündert wurden, ihren Einfluß. Es fehlte nicht an Beschwerden gegen die Polizeibehörden, sowohl aus diesem Anlaß als auch im Hinblick auf das Vorgehen gegen die Arbeiter, da ihnen jede freie Regung in den Grenzen der Gesetze verboten und dadurch eine Verbitterung der Gemüter erzeugt werde. Der Ministerpräsident führte die Verteidigung der Polizeibehörden, wobei erden gegenwärtigen Zeitpunkt zur Aufhebung oder Milderung der Ausnahmsgesetze nicht als geeignet erklärte. Bei der Beratung des Unterrichtsbudgets sprach Unterrichtsminister v. Gautsch, von welchem man eine Äußerung über die Erklärung der Bischöfe in der Schulfrage erwartet hatte, lediglich den Wunsch aus, die Schulfrage möge von keiner Seite aufgerollt werden, und erklärte, er werde in seiner bisherigen Haltung verharren. Abgeordneter Beer gab namens der deutschen Linken eine Erklärung ab, welche den Austritt der deutsch-liberalen Abgeordneten aus dem Reichsrat für den Fall der Verkirchlichung oder Verlängerung des Volksschulwesens ankündigte. Bei der Beratung der die Finanzverwaltung betreffenden Kapitel schilderte unter andern Abgeordneter Groß die traurige Lage der Arbeiter in den ärarischen Tabaksfabriken; Roser beantragte zum 27. Male die Aufhebung des kleinen Lottos. Zum Budgettitel Handelsministerium hielt Minister Marquis v. Bacquehem, welcher die Gunst aller Parteien des Hauses genießt, eine hauptsächlich die schwebenden handelspolitischen Fragen behandelnde Rede. Bei der Beratung des Ackerbauetats erörterte Minister Graf Falkenhayn die soziale Frage, warnte vor den Arbeiterkammern als einer politischen Organisation der Arbeiter und sprach sich für eine berufsständische Organisation aus, wobei auch die Arbeiter ihre Interessen ausreichend vertreten könnten. Das ohne äußere Veranlassung und keineswegs im Auftrag der Gesamtregierung vorgebrachte christlich-soziale Programm fand sofort seitens des Abgeordneten Plener die entsprechende Replik. Den Schluß bildete der Justizetat, wobei der Minister Graf Schönborn die wichtigsten Fragen seines Ressorts sowie die Ausgleichsfrage besprach, bei welcher nach seinen Ausführungen der gute Ruf des Königreichs Böhmen und des politischen Zustandes der Monarchie auf dem Spiele stehe. Nach einer an Arbeit und Aufregungen reichen Session schlossen das Abgeordnetenhaus 19. und das Herrenhaus 20. Mai ihre Sitzungen. Nachdem inzwischen der böhmische Ausgleichslandtag vom 19. Mai bis 3. Juni seine Session abgehalten hatte (s. Böhmen), schlossen sich unmittelbar daran die Verhandlungen der Delegationen, welche 4. Juni in Budapest zusammentraten. Der denselben unterbreitete gemeinsame Reichsvoranschlag für 1891 bezifferte das ordentliche Erfordernis mit 116,5, das außerordentliche mit 16,4, das Gesamterfordernis mit 132,9 Mill. Guld. (um 3,5 Mill. mehr gegen das Vorjahr). Das außerordentliche Heereserfordernis umfaßt insbesondere 2 Mill. zur weitern Beschaffung von Repetiergewehren und 2½ Mill. als erste Rate des Gesamterfordernisses von 11,9 Mill. zur Einführung des rauchlosen Pulvers, zu dessen Erzeugung eine eigne ärarische Fabrik errichtet wird. In seiner Ansprache an die Delegierten stellte der Kaiser fest, daß seit dem letzten Jahre in der allgemeinen politischen Lage und in den Verhältnissen der Österreich-Ungarn näher berührenden Balkanländer keine wesentliche Veränderung eingetreten sei. Die freundschaftlichen Beziehungen zu allen Mächten bestärken den Kaiser in der Hoffnung, daß die Segnungen des Friedens auch fernerhin erhalten bleiben werden. In kraftvollem Zusammenstehen mit den Verbündeten Österreich-Ungarns und in vertrauensvollem Zusammenwirken zu den gemeinsamen Friedenszielen erblickt der Kaiser auch für die Zukunft eine Bürgschaft für die Sicherung seiner auf die Wohlfahrt seiner Völker gerichteten Bestrebungen. In gleichem Sinne bewegten sich die Erklärungen des Grafen Kalnoky. Bezüglich der Balkanstaaten fand der Minister für Bulgarien abermals Worte wohlwollender Anerkennung, schlug dagegen einen ernsten Ton gegenüber Serbien an: Die Regentschaft möge den guten Willen besitzen, sich mit Österreich-Ungarn auf einen guten Fuß zu stellen, aber es fehle ihr anscheinend an Autorität gegenüber dem Treiben der Presse; Österreich-Ungarn hege alles Wohlwollen für Serbien, müsse aber an der Voraussetzung der Gegenseitigkeit festhalten; Verwickelungen seien übrigens nicht zu besorgen. Es war wohl mehr als ein Zufall, daß am selben Tage der ungarische Ackerbauminister ein durch veterinärpolizeiliche Rücksichten begründetes Verbot der Schweineeinfuhr aus Serbien erließ. Dasselbe rief in Serbien einige Aufregung hervor, welche erst allmählich einer ruhigern Stimmung wich. Übrigens wurde das Verbot 10. Okt. 1890, nachdem Serbien die erforderlichen veterinärpolizeilichen Garantien geboten hatte, wieder aufgehoben. Die vom Kriegsminister den Delegationen für die Zukunft in Aussicht gestellten erheblichen Mehrforderungen (er sprach etwas unvorsichtig von einem allerdings nur einmaligen Betrag von 100-120 Mill.), insbesondere behufs Erhöhung des Friedenspräsenzstandes, rief in weiten Kreisen Bestürzung hervor. Das Budget der okkupierten Länder ergab einen Überschuß von 51,000 Gulden. Minister Kallay bot auch diesmal ein sehr erfreuliches Bild der Entwickelung Bosniens und der Herzegowina unter der österreichischen Verwaltung. Die Delegationen schlossen nach Bewilligung des Voranschlags ihre Verhandlungen 28. Juni.

Im Laufe des Sommers 1890 fanden in mehreren Provinzen Landtagswahlen statt, welche im allgemeinen keine weitgehende Verschiebung in den Parteiverhältnissen zur Folge hatten. Bemerkenswert ist, daß in den mährischen Landgemeinden die Alttschechen an die neue bäuerlich-jungtschechische Fraktion sechs Mandate verloren, daß in den mährischen Städten die Deutschen drei Wahlsitze neu errungen haben, daß es dagegen in Schlesien den vereinigten Slawen, Antisemiten und Klerikalen gelungen ist, den Deutschen zwei Sitze zu entreißen. Auch in Niederösterreich verlor die deutsch-liberale Partei gegenüber der Koalition der Antisemiten und Klerikalen mehrere Mandate in den Landgemeinden und Städten, insbesondere fielen letztern die Mandate von sechs Wiener Vorstadtbezirk und zwei Mandate der Vororte zu. Von den Landtagen, welche 14. Okt. zu einer Session einberufen worden sind, ist, abgesehen vom böhmischen Landtag (s. Böhmen), wenig zu berichten. Der niederösterreichische Landtag hatte sich hauptsächlich mit der Vereinigung Wiens mit den Vororten zu befassen;