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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Straßenbahn

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Straßenbahn (Entwickelung in Deutschland).

einer bestimmten kurzen Entfernung über eine feste Rolle hinweg zu seiner Ausgangsstelle zurückzukehren. Dieses Kabel tritt in Thätigkeit, wenn die Schwungkraft des Wagens nicht mehr ausreicht, vor und hinter jeder Haltestelle. Der Wagen, welcher die längere geneigte Strecke hinab der Station zugefahren ist, setzt sich nämlich, ehe er den Gipfel der darauf folgenden Steigung erreicht, bez. wenn er den Vorrat von lebendiger Kraft verbraucht hat, mittels eines automatisch wirkenden Greifapparats mit dem endlosen Kabel in Verbindung, das ihn über die Erhöhung hinwegzieht. Bei der Station bringt dann ein Mechanismus durch Loslassen des Kabels und leichtes Bremsen den Zug zum Stehen, vor der Abfahrt aber wird infolge einer weitern selbstthätigen Vorrichtung das Kabel von neuem gefaßt und der Wagen auf der nächstfolgenden Strecke emporgezogen, um, oben angelangt und vom Seile abgelöst, hinabzurollen.

Entwickelung des Straßenbahnwesens.

Am 22. Juni 1890 waren 25 Jahre seit der Eröffnung der ersten S. in Deutschland (Berlin-Charlottenburger Pferdebahn) vergangen. In einem in der Polytechnischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag (»Die ersten 25 Jahre der deutschen Straßenbahnbetriebe«, »Polytechnisches Zentralblatt«, 1890) beleuchtet Hilfe die mit den Straßenbahnen in Deutschland bisher gemachten Erfahrungen in technischer und wirtschaftlicher Beziehung. Danach ist die Einführung der Straßenbahnen in Deutschland nicht deutschem Unternehmungsgeist zu danken, vielmehr war der Begründer der ersten deutschen S. ein dänischer Ingenieur Moller, dem es gelang, den Widerstand der Behörden, das Vorurteil der Bevölkerung und gewisse Feindseligkeiten derjenigen frühern Fahrbetriebe zu beseitigen, welche durch die Einführung der Pferdebahn ihre eigne Lebens- u. Bestandsfähigkeit gefährdet glaubten. Die Ausführung geschah, allerdings nach Kopenhagener Vorbild, durch deutsche Techniker, Kulin und Gebr. Büsing. Die Bahn fuhr vom Brandenburger Thore in Berlin nach Charlottenburg. Die ursprüngliche Genehmigung, die Linie durch die Straße Unter den Linden fortzusetzen, wurde auf Betreiben der Tagespresse, welche das Unternehmen als zu gefährlich hinstellte, wieder zurückgenommen, während es heutzutage von den Tagesblättern vielfach bedauert wird, daß die Straßenbahnen die Linden nicht einmal kreuzen dürfen.

Bezüglich des Schienenweg der Straßenbahnen ging ursprünglich die Ansicht der Behörde dahin, möglichst nur eingeleisige Bahnen zuzulassen, weil sie den Straßenkörper dem übrigen Verkehr weniger entziehen sollten als die zweigeleisigen. Moller machte bereits darauf aufmerksam, daß diese Auffassung irrig sei, daß vielmehr ein eingeleisiger Betrieb wegen der Aufenthalte an den Weichen viel häufiger zu Verkehrsstörungen führen würde; doch ist die letztere Auffassung bei den Behörden erst in der Neuzeit durchgedrungen. Die behördlicherseits an die Straßenbreite gestellten Anforderungen sind beträchtlich herabgegangen (von ursprünglich 11,3 m für eingeleisige und 17,5 m für zweigeleisige Straßenbahnen auf 10, ja sogar bis 6,8 m für zweigeleisige Straßenbahnen).

Die Hochbauten der Straßenbahnen bestehen hauptsächlich in den Depots, d. h. in Gebäuden zur Unterkunft der Pferde, Wagen, bez. Lokomotiven. Hier hat sich das Bedürfnis herausgestellt, für möglichst viel Wagen und Pferde möglichst nahe den Hauptverkehrspunkten geeignete Unterkunft zu schaffen. In vielen Städten hat man die Pferdebahndepots mit Rücksicht auf billigern Grunderwerb sehr weit außerhalb des Weichbildes gelegt, jedoch dabei die Erfahrung gemacht, daß die rechtzeitige Versorgung der Innenstadtteile mit Wagen und Pferden auf Schwierigkeiten stößt. Deshalb sucht man jetzt, z. B. in Berlin, die Depotsanlagen ins Innere der Stadt hereinzuziehen. Weil jedoch da der Grund und Boden sehr teuer ist, so ist man zu der Einrichtung übergegangen, die Pferde in zwei Stockwerken unterzubringen, deren unteres ein halbes Kellergeschoß, und deren oberes gleichsam ein Hochparterre bildet, und welche durch abwärts, bez. aufwärts gehende Rampen zugänglich sind. Der Raum darüber wird zum Unterbringen von Futter benutzt. Auch die Unterbringung von Wagen in zwei Stockwerken findet sich vereinzelt, jedoch dürfte diese nur da zweckmäßig sein, wo man für Sommer und Winter verschiedene Wagen hat, von welchen jedesmal die der Jahreszeit entsprechenden jährlich nur einmal ins obere Stockwerk gehoben, bez. von ihm herabgelassen zu werden brauchen, während des Gebrauchs aber immer zu ebener Erde ein- und ausfahren. In neuester Zeit geht man in Berlin mit der Absicht um, die Wagen in den untern Räumen der Stallungen, im ersten und zweiten Stockwerk die Pferde, und im dritten und vierten die Futtervorräte unterzubringen. Wie gewaltig die Depotanlagen in großen Städten anwachsen müssen, ist z. B. daraus zu entnehmen, daß in den drei Berliner Pferdebahnbetrieben 1100 Wagen mit 5500 Pferden gebraucht werden.

Die ersten Wagen wurden nach amerikanischem Vorbild in Hamburg gebaut, schwere große Wagen mit Verdecksitzen und kleinen Fenstern. Viele Wagen wurden anfangs aus Amerika bezogen, während jetzt der Bedarf an Wagen fast ausschließlich in Deutschland selbst befriedigt wird und zwar hauptsächlich von den Firmen Herbrand u. Ko. in Ehrenfeld bei Köln, Wagenfabrik Ludwigshafen, Linkesche Fabrik in Breslau und in Görlitz. In dem Wagenpark der 73 deutschen Straßenbahnen sind mindestens 14-15 Mill. Mk. angelegt. Gegen Barzahlung pflegen Decksitzwagen 4850 Mk., Zweispänner ohne Deck 3850 Mk. und Einspänner 2900 Mk. zu kosten. Die Wahl der Pferde bei den heutigen deutschen Straßenbahnen hat darauf Rücksicht zu nehmen, ob Zweispännerwagen mit Decksitz oder ohne Decksitz oder Einspännerwagen gezogen werden sollen, außerdem auf die örtlichen Steigungsverhältnisse u. die gebräuchliche Fahrgeschwindigkeit. Beim Zweispännerbetrieb mit Decksitzwagen und beim Einspännerbetrieb sind schwere Pferde erforderlich, die aus Dänemark, Mecklenburg, Holstein sowie in geringer Zahl aus Frankreich bezogen werden. Ungarische und russische Pferde werden kaum noch verwendet. Für Zweispännerwagen ohne Decksitze eignen sich bei gewöhnlichen Terrainverhältnissen die ostpreußischen Pferde sehr gut. Im ersten Jahre des deutschen Straßenbahnbetriebes (1865/66) waren vorhanden 19 Wagen und 126 Pferde, befördert wurden 964,512 Personen gegen 246,048 Mk. Fahrgeld auf 67,930 Fahrten mit insgesamt 529,854 Wagenkilometern und auf einer 7800 m langen Schienenstrecke. Demgegenüber wurden im J. 1889 auf 69 von den 73 Straßenbahngesellschaften (vier haben keine Auskunft erteilt) 333,269,504 Fahrgäste befördert, die 40,220,359 Mk. Fahrgeld eingebracht haben, wozu 15,326,517 Fahrten mit 80,725,266 Wagenkilometern zurückgelegt werden mußten und 3962 Wagen mit 133,386 Plätzen, 14,493 Pferde sowie 161 Maschinen erforderlich waren. Die Gesamtlänge der deutschen Straßenbahnstrecken beträgt 1,349,092 m. Auf Ber-^[folgende Seite]