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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Theologische Litteratur

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Theologische Litteratur (biblische Kritik).

auf, aber wirklich gelesen wird da und dort einmal ein Artikel, auf welchen als auf ein besonders merkwürdiges Zeichen der Zeit vielleicht ein guter Freund aufmerksam gemacht hat. Sollte es durchs geschriebene und gedruckte Wort, bez. durchs Papier allein geschehen, so müßten die kirchlichen Bestrebungen längst in unserm Volke zum unbestrittenen Siege gelangt und die von der Kirche erhoffte Niederlage der Sozialdemokratie zur Thatsache geworden sein. Beiläufig sei noch erwähnt, daß das zuletzt Gesagte von der römisch-katholischen Presse so gut wie von der evangelisch-protestantischen gilt.

Täuscht uns nicht alles, so ist es eigentlich nur ein Gebiet der theologischen Forschung, welches heute einer verständnisvollen Beachtung von seiten der auf Erweiterung des geistigen Horizonts bedachten Zeitgenossen sicher sein kann: das ist das Gebiet der biblischen Kritik. Eine Bibel findet man ja immerhin noch in fast allen Häusern der protestantisch-christlichen Gemeinde. Sie gilt daher als der trockne und feste Rückstand, gleichsam als das Caput mortuum jener chemischen Prozesse, in welchen sich die alte Gläubigkeit im Laufe der letzten anderthalb Jahrhunderte zersetzt hat. Für eine große Zahl von Personen gilt als grundsätzlich entscheidend die Frage, ob die heutige Theologie es thatsächlich leisten und moralisch verantworten kann, die überkommene Stellung zur Bibel als dem unfehlbaren Gotteswort, der von Gottes Geist eingegebenen Quelle und Norm aller Lehre, dem bewährten Maßstab jeder auf religiöse Geltung Anspruch erhebenden Gottes- und Weltanschauung angesichts der Forderungen und Leistungen der modernen Kritik noch ferner festzuhalten. Wie sehr diese Frage auch der zünftigen Theologie auf dem Herzen lastet und auf dem Gewissen brennt, beweist ein Rückblick auf die Verhandlungsgegenstände der theologischen Versammlungen und pastoralen Konferenzen in den Jahren 1889 u. 1890. Auf dem Sammelpunkt der exklusiv konfessionellen Geistlichkeit des Königreichs Sachsen, der sogen. Chemnitzer Konferenz, beleuchtete 11. März 1889 der Dresdener Oberkonsistorialrat Löber »die gesicherten Resultate der Bibelkritik und das von uns verkündigte Gotteswort«. Dieser Vortrag ist 1890 schon in dritter Auflage erschienen. Am 20. Juni 1889 folgte auf der theologischen Konferenz zu Gieben der Pfarrer Eibach mit einem Vortrag über »die wissenschaftliche Behandlung und praktische Benutzung der Heiligen Schrift«. Vielfach ähnliche Sorgen und Noten veranlaßten 17. Juli auf einer Versammlung des oberhessischen Vereins für innere Mission den Pfarrer Rieger, »über die Abnahme der Bibelkenntnis in der Gemeinde« zu reden. Unter Beschränkung auf die größere und schwierigere Hälfte des Bibelinhalts behandelte auf dem Thüringer Kirchentag 25. Sept. der Jenaer Professor Siegfried »die historische und die theologische Bedeutung des Alten Testamentes«. Zum Beweis dafür, daß die Frage dermalen wirklich um die Welt geht, erschien dann im J. 1890 ein vor der St. John Clerical Association von Neubraunschweig (Britisch-Amerika) gehaltener Vortrag von J. ^[John] de Soyres über »Christianity and biblical criticism«. Am 5. Juni d. J. sprach vor der Berliner Pastoralkonferenz der Greifswalder Professor Schlatter über »die Bedeutung des Wortes Gottes für die evangelische Kirche und die negative Kritik«. In Straßburg setzte die Pastoralkonferenz der Reichslande für ihre Versammlung vom 3. Juni die Frage nach »Bibelkritik und Gemeindeerbauung« auf die Tagesordnung. Eine ebendaselbst 5. Juni tagende Konferenz lutherischer Pastoren verhandelte über »Bibel und Wort Gottes«. Auf der Jahresversammlung des badischen Predigervereins in Karlsruhe 2. Juli wurde ein Vortrag gehalten über »die gegenwärtige Auseinandersetzung zwischen Bibelkritik und Christenglauben«. Das Verzeichnis könnte noch erheblich erweitert werden, zumal wenn die nebenher gehende Tageslitteratur mit berücksichtigt würde. In dieser Beziehung sei an gegenwärtigem Orte die Kontroverse erwähnt, welche sich in Württemberg entsponnen hat, wo der Tübinger Professor Robert Kübel vor einer nicht ausschließlich aus Theologen bestehenden Zuhörerschaft einen Vortrag »über das Wesen und die Aufgabe der bibelgläubigen Theologie« (Stuttg. 1889) gehalten hat, welcher sofort in einem »Zur Bibelfrage« überschriebenen offenen Briefe des schwäbischen Pfarrers Eisele an den Vortragenden eine Erwiderung gefunden hat, welche fast den Eindruck macht, als sei der Pfarrer der Professor, der Professor aber, wenn nicht ein obskurer Pietistenhäuptling, so doch mindestens kein Mann, welcher die Schwierigkeiten der heutigen Sachlage zu begreifen und ihnen gerecht zu werden vermag. Schließlich sei, um die Aktualität dieses Themas darzuthun, noch auf den in England mit Heißhunger verschlungenen, auch ins Deutsche übersetzten Roman »Robert Elsmere« von Miß Ward hingewiesen, der sich ja ganz um die Frage dreht, ob und wie ein an seinem Bibelglauben irre gewordener Diener der Kirche noch eine religiös und sittlich fruchtbare Wirksamkeit entfalten könne. Die Laufbahn des Helden scheitert nämlich an dieser Klippe.

Mag man aber auch in der englischen Staatskirche nicht begreifen, wie ein Diener des Evangeliums sich herausnehmen könne, hinsichtlich der Entstehung der biblischen Bücher Ansichten zu huldigen, welchen in Deutschland fast kein Schulknabe, trotzdem daß es ihm im staatlich erteilten Religionsunterricht merkwürdigerweise gewöhnlich geradezu verboten wird, sich entziehen kann, so sollte man denken, wenigstens die deutsche Theologie und Kirche müsse stolz sein auf die in ihrem Schoße erwachte und mit so viel Hingebung und Erfolg gepflegte biblische Kritik. Man sollte denken, es müsse allerorts dankbarst empfunden werden, daß eine solche Kritik da ist und die biblischen Urkunden von dem Verdacht, eine erschwindelte Ausnahmestellung in der Litteratur des Altertums beanspruchen zu wollen, ein für allemal befreit hat. Aber gerade das Gegenteil ist der Fall. In den Kreisen, für welche die »Kirchliche Monatsschrift« gedruckt wird und Persönlichkeiten wie der Berliner Hofprediger a. D. Stöcker maßgebende Autoritäten sind, proklamiert man die biblische Kritik offen als ein Unglück und Verhängnis, welches über die evangelische Kirche in demselben Augenblick hereingebrochen sei, da sie im Kampfe mit den auflösenden Gewalten der sozialistischen Anarchie und der römischen Hierarchie eines festen Standpunktes mehr denn je bedurft hätte. »Die Kritik hat einen dämonischen Charakter, die kritischen Theologen sind viel gefährlicher als die Sozialisten.« So das Organ der Berliner Hofpredigerpartei. Aber auch in den gemäßigten Zonen unsers heutigen Kirchentums ist die biblische Kritik anerkanntermaßen ein immerhin mit unverkennbarem Mißtrauen beobachteter, nicht eben gern gesehener Gast, den man vielleicht höflich empfängt, vor dem man aber doch gleichzeitig allzu vertrauensvolle Seelen nicht genug warnen zu können glaubt. »Wider die unfehlbare Wissenschaft: eine Schutzschrift für konservatives theologisches Forschen und Lehren«, unter diesem Titel hat schon 1887 Prof.