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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Theologische Litteratur

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Theologische Litteratur (alt- und neutestamentliche Kritik).

Zöckler in Greifswald eine Kundgebung erlassen, welche ein seither reichlich und unausgesetzt verwertetes Material liefert für alle diejenigen, die sich jenes ungebetenen Gastes gern auf die kürzeste Weise entledigen mochten. Die Broschüre stellt die biblische Kritik ganz wie eine wilde Jagd des Satans dar. »Die besonnen sein Wollenden werden immer wieder von Ultras überholt; hinter der halben Zerstörungsarbeit eines Baur her kommt Bruno Bauer als Vollbringer des Ganzen« (S. 27). »Das Prinzip ist für beide das gleiche; der Unterschied liegt nur in der mehr oder minder konsequenten Handhabung« (S. 28). Da begegnen wir gleich in Bezug auf die Kritik des Pentateuchs, welche dermalen den beliebtesten Tummelplatz tendenzkritischer Abenteuerlust abgebe, einer dichtgedrängten Reihe von Kritikern, »und ein jeder behauptet, die allein wahre Theorie gefunden zu haben«, »ein schwer zu überschauendes Chaos disparater Meinungen: quot capita, tot sententiae« (S. 36).

Das ist so recht ein Muster einer am unrechten Orte angebrachten Advokatenberedsamkeit. Zugegeben, daß sie einzelne Extravaganzen der Eitelkeit und Rechthaberei treffend kennzeichnen mag, so entspricht sie den Thatsachen im großen und ganzen keineswegs. Wenn vielmehr irgendwo sich von einem positiven Erfolg der Wissenschaft reden läßt, so ist solches auf dem Gebiete der alttestamentlichen Forschung der Fall. Der Grundgedanke wenigstens hat durch geschlagen, demzufolge künftig die Propheten als Schöpfer der altisraelitischen Religion zu gelten haben werden, während der angeblich mosaische Pentateuch zur nachgehenden Kodifikation des religiösen Brauches herabgesunken ist. Das Zusammentreffen der verschiedensten, noch am Leben und in litterarischer Wirksamkeit befindlichen Forscher, eines Reuß in Straßburg (inzwischen, 15. April 1891, verstorben), eines Kuenen in Leiden, Wellhausen in Marburg, die Anerkennung, welche ihre Resultate bei Sachkundigen der verschiedensten Richtungen, wie z. B. Kautzsch, Stade und Siegfried, vor allem auch in der 4. Auflage der »Alttestamentlichen Theologie« von H. Schultz (1889) gefunden haben, macht schon an sich einen verblüffenden Eindruck. Das Resultat selbst aber sieht doch ganz aus, wie wenn eine auf die Spitze gestellte und darum stets mühsamer Stützversuche bedürftige Pyramide durch einfaches Umdrehen auf ihre natürliche Basis gestellt worden wäre. In der That war das Alte Testament durch die rabbinische Redaktion des Kanons mit der Reihenfolge: Gesetz, Propheten, Psalmen zu einem vollständigen Rätsel geworden, indem es die Vorstellung zu bilden nötigte, als habe die altisraelitische Religion mit einem Gesetz angefangen: ein Gedanke, gleich unvollziehbar an sich wie angesichts der angeblich auf das Gesetz erst folgenden prophetischen Litteratur. Aber man mag dieses Resultat auch zurückweisen; man mag auf Lücken der Beweisführung hinweisen und sich auf die Vorsicht berufen, welche z. B. Graf Baudissin in seiner »Geschichte des alttestamentlichen Priestertums« (Leipz. 1889) übt: der Standpunkt der modernen Kritik an sich ist so gut wie allenthalben auf dem Gebiet alttestamentlicher Forschung anerkannt. Zetert doch die »Kirchliche Monatsschrift« darüber, alles sehe so aus, »als ob der moderne Professorenunglaube schon das Besitzrecht in der Kirche unbestritten in Händen hätte« (S. 816). Die Wahrheit ist diese: soweit hier überhaupt wissenschaftlich gearbeitet wird, soweit geschieht solches auch vermittelst der historisch-kritischen Methode, und selbst die Resultate stehen sich keineswegs, wie auf neutestamentlichen Gebiet wenigstens teilweise noch der Fall ist, direkt gegenüber, sondern unterscheiden sich nur insofern, als die einen unbekümmerter, vielleicht rücksichtsloser voranschreiten, die andern dagegen von dem überlieferten Bestand wenigstens das zu retten suchen, was noch einigermaßen gehen und stehen kann (vgl. Siegfried, S. 115). Aber wie steht es mit der neutestamentlichen Kritik? Über die Ziellosigkeit gerade ihrer Wege wird ja vorzugsweise geklagt. Zöckler glaubt eine gänzliche »Zersplitterung und Zerfahrenheit« konstatieren zu sollen und exemplifiziert dies an einzelnen neutestamentlichen Büchern, wie erster Petrus-, Jakobus- und Hebräerbrief, die sogen. paulinischen Gefangenschaftsbriefe und Apokalypse (S. 38 f.): eine solche Kritik habe das sic et non Abälards zur Signatur (S. 42). »Eine Wissenschaft, welche ein Chaos unbewiesener Hypothesen als ausgemachte Thatsachen darbietet, kann uns kein sonderliches Vertrauen zur Richtigkeit und Leistungsfähigkeit ihrer Methode einflößen« (S. 49). Sonach könnte, wer den Gang der neutestamentlichen Forschung kennzeichnen sollte, seiner Aufgabe am besten durch eine beliebige, nur möglichst krause Schnörkelei genügen. Aber entspräche ein solches Bild der Wirklichkeit? Für diese Frage mochten wir uns noch einige Aufmerksamkeit erbitten.

Seit wann gibt es im theologischen Durchschnittsbewußtsein eine neutestamentliche Kritik in dem Sinn, wie hier davon die Rede ist, also nicht als Textkritik, sondern als sogen. innere Kritik, die ihr Absehen auf Darlegung der Entstehung und Kompositionsweise, des Zweckes und Zeitalters der einzelnen Bücher, welche zusammen das Neue Testament bilden, gerichtet hat? Für uns Deutsche wenigstens existiert eine solche seit der großartigen Thätigkeit zweier gerade vor 100 Jahren verstorbener Gelehrten, des Göttingers Johann David Michaelis und des Hallensers Johann Salomo Semler. Jener schließt das Alte ab, indem er allenthalben die Brüchigkeit desselben erkennen läßt; dieser behaut lauter Steine zum Neubau und stellt das Programm für die kommende Periode fest. Wie lautet dieses Programm? Der Kanon des Neuen Testaments ist das Werk der alten katholischen Kirche und kann schon darum als solcher nicht wohl bindende, autoritative Kraft für die protestantische Theologie und Kirche besitzen. In der That beweisen schon Luthers bekannte freie Urteile über einzelne Teile dieses Kanons, daß man sich des Rechtes, wie an dem ganzen überkommenen Bestand von Kirchentum und theologischem Betrieb, so auch speziell an diesem Besitztitel Kritik üben zu dürfen, vollkommen bewußt gewesen ist. Die Gründe, mit welchen er die Autorität einzelner Bücher angefochten hat, sind zwar zum Teil der Art und Weise, wie solche Bücher geschichtlich bezeugt waren, zum Teil aber auch der litterarischen Form, welche sie aufweisen, zum Teil endlich geradezu dem Inhalt entnommen, sofern derselbe dem Geiste der Hauptschriften nicht homogen erschien. Nach allen diesen Richtungen verfügte nun schon das geschulte Urteil von Theologen wie Michaelis und Semler, verfügt vollends unser heutiges Urteil über ein ungleich größeres Maß von Anhalts- und Angriffspunkten. Dies schon darum, weil das Material, mit welchem gearbeitet und welches verarbeitet werden muß, ungemein gewachsen ist. Schon Semler war darum der Überzeugung, daß der gelehrten Theologie seiner Zeit dasselbe Recht zustehen müsse wie der Theologie derjenigen, die 200 Jahre zuvor in Luthers Nachfolge verschiedene Rangordnungen neutestamentlicher Bücher aufzustellen sich nicht gescheut haben und dabei im übrigen