Schnellsuche:

Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Theologische Litteratur

923

Theologische Litteratur (neutestamentliche Kritik).

Theologen von anerkannter Rechtgläubigkeit geblieben waren. Auch die neutestamentliche Litteratur wurde deshalb bisher bei uns nach denselben Gesetzen verwertet, welchen alle menschliche Schriftstellerei unterliegt, d. h. man beurteilte die Verfasserschaft, Zeitlage u. Tendenz einer Schrift, statt nach der kirchlichen Tradition, vielmehr nach historischen Analogien und innerer Wahrscheinlichkeit aus dem litterarischen Produkt selbst heraus. Auf diesem Wege stellte sich schon dem genannten Bahnbrecher eine gewisse Gegensätzlichkeit zwischen Paulinischer und judenchristlicher Litteratur im Neuen Testament heraus und erschienen ihm die katholischen Briefe als Ausgleichsversuche. Insonderheit läuft auch schon bei Semler die Scheidelinie mitten durch die Johanneische Litteratur hindurch, indem das vierte Evangelium auf die Paulinische, die Apokalypse auf die judenchristliche Seite zu liegen kam. Und so wenig wie die Apokalypse vom vierten Evangelisten, so wenig konnte der Hebräerbrief von Paulus geschrieben sein, trotz der fast anderthalbtausendjährigen Tradition, die ihn als 14. Paulusbrief kennzeichnete. Der erste Petrusbrief schien kaum mehr als unmittelbare apostolische Schrift gelten zu können; der zweite aber samt dem Judasbrief wurde in das 2. Jahrh. verwiesen.

Sehen wir nun von dieser Semlerschen Position auf die heutige Sachlage herüber, so zeigt sich uns auf den ersten Blick eine wesentliche Verwandtschaft. Alle Hauptprobleme sind dieselben geblieben, ja die Resultate waren vor 100 Jahren zum guten Teil schon antizipiert, wenn auch noch nicht methodisch richtig erreicht. Der ganze Strom der neutestamentlichen Kritik hat, weit davon entfernt, in hundert Bächlein nach allen Weltgegenden zu verlaufen, gleich von vornherein ein Fahrwasser gebildet, welches nur immer tiefer und breiter wurde, aber keine grundsatzmäßige Ablenkung aus der einmal genommenen Richtung erfahren hat. Was heute Zöckler und Genossen bekämpfen, sind im wesentlichen die Semlerschen Aufstellungen, und die gleichen Aufstellungen sind es auch, darin sich mit unwesentlichen Abweichungen im Detail die Vertreter aller kritischen Richtungen und Schulen zusammenfinden.

Indem wir diese Behauptung aufstellen, haben wir die Epoche der sogen. Tübinger Schule keineswegs übersehen. Allerdings kennzeichnet gerade der Gegensatz zu dieser Schule die Sachlage heute noch ebensogut wie fast seit 40-50 Jahren, und der auf der Gegenseite stehenden Namen von gutem, wissenschaftlichem Klange sind heute sogar mehr als damals Liegt in dieser Thatsache nicht die Widerlegung unserer Behauptung? Ist die Kontinuität und Geradlinigkeit der Entwickelung damit nicht aufgehoben? Folgende Punkte sind es, welche man behufs einer richtigen Beurteilung der Lage nicht aus dem Auge verlieren muß.

Erstlich war die Tübinger Richtung nichts absolut Neues, sondern lag durchaus in der von Semler gewiesenen Linie. Es waren die Semlerschen Grundanschauungen, nur solider fundamentiert, starker befestigt, sorgfältiger ausgebaut, vor allem in einen großartigen historischen Zusammenhang eingefügt. »Die historische Schule innerhalb der Theologie«, diese Bezeichnung, welche Baur und Zeller dem von der Gegnerschaft beliebten Namen »Tendenzkritik« entgegensetzten, entsprach den Thatsachen und war vollkommen berechtigt. Zweitens aber berührte diese Gegnerschaft selbst, soweit sie ernst zu nehmen war, keineswegs in erster Linie Fragen der litterarisch-historischen Kritik, sondern es handelte sich namentlich seit Ritschls Auftreten um die geschichtliche Situation und Konstellation überhaupt, darunter das Urchristentum sich zur katholischen Kirche fortgebildet und ausgestaltet hat. Es handelte sich namentlich darum, ob dem Judenchristentum eine so allbedingende und durchgreifende Bedeutung im christlichen Altertum zukomme, daß ihm die Existenz der Kirche selbst zum besten Teile auf die Rechnung geschrieben werden kann, oder ob diese Kirche nicht vielmehr als eine heidenchristliche Stiftung zu begreifen sei. Es handelte sich darum, ob das Durchschnittsbewußtsein des nachapostolischen Zeitalters nach alttübingischem Rezept aus dem allmählichen Ausgleich beider Richtungen oder nicht ungleich besser aus den religiösen Dispositionen zu erklären sei, welche die heidnischen Massen, wenn sie in die Kirche hineindrangen, mitbrachten. Nur in der Beantwortung solcher Fragen stehen die Vertreter der Ritschlschen Konstruktion seit einem Menschenalter in geschlossener Reihe der alttübingischen Auffassung gegenüber. Aber trotzdem darf Karl Weizsäcker in seiner als Kanzler der Universität Tübingen 6. Nov. 1890 gehaltenen Rede von Baur sagen: »Der Grundgedanke ist geblieben, und ich wußte nicht, wie das anders werden sollte, wenn man nicht die Dinge auf den Kopf stellen will. Die ersten Christen waren Juden.« Im übrigen hat freilich auch die kritische Schule im weitern Sinne, wie sie mit der Zeit aus der Tübinger Keimzelle erwachsen ist, wesentliche Konzessionen gemacht und sich nicht wenige Gesichtspunkte angeeignet, welche geradezu als Korrekturen des Tübinger Programms gelten müssen. So sind viele alte Kontroversen mit der Zeit hinter neuen Streitfragen, die sich aus der veränderten Gesamtanschauung ergeben haben, zurückgetreten, und über dem allen ist das Geschichtsbild des Urchristentums wesentlich bereichert worden. Man vergleiche nur etwa den ersten Band des »Lehrbuchs der Dogmengeschichte« von dem von Ritschl ausgegangenen jetzigen Berliner Professor Adolf Harnack (2. Aufl. 1888) mit dem 30 Jahre ältern Buche Baurs über »Das Christentum der drei ersten Jahrhunderte«.

Ganz anders aber liegt die Sache, sobald man wieder zu den speziell neutestamentlichen Fragen zurückkehrt und die Beurteilung der einzelnen Schriften nach ihrer Entstehung, Echtheit und Abzweckung ins Auge faßt. Hier gibt es keine gemeinsame Fahne der Schüler Ritschls mehr, sondern nur eine mehr oder weniger weit gediehene Annäherung an die Aufstellungen der Tübinger Schule. Als Illustration dient die Stellung, welche zwei der hervorragendsten Schüler Baurs heute einnehmen: auf der einen Seite sein Nachfolger Karl Weizsäcker, der sich auf so vielen Punkten mit Ritschl und den konservativern Strömungen berührte, auf der andern sein schwäbischer Landsmann in Berlin, Otto Pfleiderer, welcher wie auf systematischem, so auf historisch-kritischem Boden den Gegensatz zu Ritschl darstellt. Von jenem haben wir das hervorragende Werk: »Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche« (1886, mit Register 1889), von diesem die lichtvolle Darstellung: »Das Urchristentum, seine Schriften und Lehren in geschichtlichem Zusammenhang« (1887). Untersucht und vergleicht man beide Werke auf ihre Stellung zu den Fragen der neutestamentlichen Einleitung, so weisen sie ein auf allen Hauptpunkten ganz übereinstimmendes Gepräge auf. Insonderheit sind die Negationen (die Suche nach solchen beschäftigt ja die gegnerische Presse vorzugsweise) in beiden Büchern fast durchweg dieselben. Was ist also schließlich das Resultat der zwischen