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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

Schlagworte auf dieser Seite: Tuberkulose

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Tuberkulose (Kochs Heilmittel).

teilung wies ziemlich deutlich darauf hin, daß man sich die Substanz nicht unter den Droguen, sondern beim Studium des Bakterienstoffwechsels gefunden vorzustellen habe; auch die Äußerung Kochs in seiner zweiten Mitteilung, wonach das Mittel Versuchstiere gegen Impfung mit Tuberkelbacillen unempfindlich zu machen im stande sei, zeigte an, daß es sich um ein Immunisierungsmittel handeln müsse, welches man sich etwa in der Art wie die Pasteurschen Schutzimpfungen gegen Hundswut, Milzbrand und andre Infektionen vorzustellen habe, und die Vermutungen der ganzen ärztlichen Welt gehen dahin, daß das Mittel aus auf chemischem Wege gewonnenen Stoffwechselprodukten künstlich gezüchteter Bakterien bestehen müsse. Derartige Stoffe, Ptomaine, Toxine (s. Bakterien, Bd. 17), sind äußerst stark wirkende Gifte, und ihre Darstellung erfordert so große wissenschaftliche Vorstudien, Geschicklichkeit und peinlichste Sorgfalt, daß nur wenige im stande sein würden, das Mittel in zuverlässiger Güte herzustellen, auch wenn seine Zusammensetzung, bez. Darstellung bekannt gegeben würde. Einer der bedeutenden Sache ungemein schadenden Nachahmung und damit der größten Gefährdung der Menschenleben wäre damit Thür und Thor geöffnet. Nach einer 15. Jan. 1891 erschienenen weitern Mitteilung Kochs besteht das Mittel aus einem Glycerinextrakt sterilisierter Reinkulturen von Tuberkelbacillen; diese Substanz gehört aber nicht zu den Toxalbuminen, da sie hohe Temperaturen erträgt. Koch selbst hält sie für ein andres Derivat der Eiweißkörper; nach Buchner wäre sie zu den Bakterienproteinen zu rechnen. Neuerdings hat das Mittel durch Koch den Namen Tuberkulin erhalten.

Das Mittel besteht aus einer bräunlichen, klaren Flüssigkeit, welche für den Gebrauch verdünnt wird. Sie wirkt nur, wenn sie unter die Haut gespritzt wird, was mittels einer besondern, von Koch angegebenen Ballonspritze zu geschehen pflegt. Die Wirkung auf den Gesunden hat Koch an sich selbst erprobt; es stellten sich nach Einspritzung von 0,25 ccm der (unverdünnten) Substanz schwere Krankheitserscheinungen mit hohem Fieber ein, welche nach etwa 12 Stunden nachließen und bis zum folgenden Tage wieder verschwunden waren. Bei Einspritzungen von 0,01 ccm oder weniger stellen sich bei Gesunden gar keine Krankheitserscheinungen mehr ein; wird aber Tuberkulösen 0,01 ccm eingespritzt, so stellt sich eine lebhafte allgemeine und örtliche Reaktion ein; die allgemeine Reaktion besteht in einem Fieberanfall, häufig mit Schüttelfrost und andern Krankheitserscheinungen, welche 4-5 Stunden nach der Einspritzung beginnen und 12-15 Stunden andauern, die örtliche Reaktion betrifft das von dem Leiden ergriffene Organ. Dasselbe wird in den Zustand einer lebhaften Entzündung versetzt, welche bei den äußerlich sichtbaren tuberkulösen Erkrankungen, so besonders beim sogen. Lupus, am deutlichsten zu beobachten ist; auch an eiternden Drüsen und anderweitigen tuberkulösen Geschwüren kann man die Erscheinungen sehr gut beobachten: Die erkrankte Stelle schwillt stark an, wird lebhaft gerötet; es kommt dann zur Ausschwitzung einer wässerigen Flüssigkeit, welche zu Borken vertrocknet; das erkrankte Gewebe stirbt brandig ab und wird nach gewisser Zeit abgestoßen. Ganz analog damit gehen die Veränderungen in allen tuberkulösen Organen vor sich, unter stets übereinstimmender Wiederholung von allgemeiner und örtlicher Reaktion. Diese lebhafte Entzündung und Abstoßung spielt sich ausschließlich im lebenden Gewebe, soweit es von den Tuberkelbacillen ergriffen ist, ab. Die schon abgestorbenen Gewebsmassen werden von dem Mittel nicht beeinflußt, auch werden die im abgestorbenen und im lebenden Gewebe befindlichen Tuberkelbacillen nicht getötet, sondern die Wirkung des Mittels besteht nur in der Hervorrufung einer demarkierenden Entzündung um den tuberkulösen Herd herum oder in diesem selbst. Man hat sich dies in folgender Weise vorzustellen: Die Tuberkelbacillen im Körper schädigen durch ihre Stoffwechselprodukte das Gewebe, in welchem sie liegen, bringen dasselbe zum Absterben, aber nur in geringer Ausdehnung, so daß die weiter nachwachsenden Bacillen immer neues Körpermaterial vorfinden, welches sie (sich aus demselben ernährend) in derselben Weise zerstören können. Wird nun durch das Kochsche Mittel eben dieser Giftstoff der Tuberkelbacillen noch in größerer Menge an den Krankheitsherd gebracht, so erfolgt eine auf einen weitern Umkreis sich erstreckende Entzündung und Gewebsnekrose, welche ihrerseits den Tuberkelbacillen den Nährboden entzieht und ihr weiteres Vordringen ins gesunde Gewebe verhindert. Die Möglichkeit, daß lebend gebliebene Bacillen von neuem ins gesunde Gewebe einwandern können, läßt Koch offen, es soll daher auf jegliche Weise der Organismus unterstützt werden, der toten Gewebsmassen, in welchen die lebenden Bacillen eingeschlossen sind, sich zu entledigen, was teils durch chirurgische Eingriffe, teils in der schon bisher geübten Weise durch klimatische und hygienisch-diätetische Behandlung angestrebt werden soll. Die ersten Versuche, die Wirkung des neuen Heilmittels auch bei Lungenschwindsucht auf operativem Wege zu unterstützen, sind schon begonnen: Sonnenburg hat schon in einigen Fällen sogen. Lungenkavernen mit glühenden Instrumenten (Thermokauter) eröffnet und die Höhlen wie Absceßhöhlen ausgeräumt.

Alsbald nach der Kochschen Veröffentlichung vom 13. Nov. strömten Ärzte und Kranke in Berlin zusammen, die einen, um das Verfahren kennen zu lernen, die andern, um sich danach behandeln zu lassen. Gewaltig war der Enthusiasmus in der ganzen Welt, aber unwillkürlich hatten die meisten ärztlichen und nichtärztlichen Leser von Kochs Mitteilung mehr in dieselbe hineingelegt, als darin in Aussicht gestellt war, insbesondere war eine ganz augenscheinliche rapide Heilung vielfach erwartet worden. Angesichts so überschwenglicher Hoffnungen konnte ein Rückschlag, ein Gefühl der Enttäuschung nicht ausbleiben. Augenblicklich dürfte diese Depression ihren tiefsten Punkt erreicht haben. Man muß zur Zeit bekennen, daß bis jetzt, d. h. bis zum Frühjahr 1891, noch nicht von definitiven unzweifelhaften Heilungen in einer genügenden, die Beobachtungen sicher stellenden Anzahl berichtet werden kann. Merkliche, ausgesprochene Besserungen sowohl von Fällen chirurgischer T. als von Lungenphthise, besonders auch von Kehlkopfschwindsucht sind dagegen schon in großer Anzahl beobachtet, und es ist ohne weiteres klar, daß Krankheitserscheinungen und Organveränderungen, welche einen so langsamen Verlauf nehmen wie die tuberkulösen, und welche so nachhaltige Zerstörungen in ihrem stillen, verborgenen Wirken geschaffen haben, sich nicht in wenigen Wochen werden beseitigen lassen. Das Mittel müssen wir uns als ein Gegengift gegen das von den Tuberkelbacillen gelieferte Gift vorstellen; das ergriffene Gewebe fällt der chemischen Umsetzung zwischen Gift und Gegengift zum Opfer; sagen wir, es verbrennt. Damit ist der tuberkulösen Infektionskrankheit das Charakteristische der Infektionskrankheiten genommen, d. h. dem Fortschreiten der Re-^[folgende Seite]