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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Elektrikerkongreß (Frankfurt 1891)

wirkung finden. Wo eine neue Idee oder eine neue Form der Kraft im Kulturleben der Menschen umgestaltend und tief eingreifend auftrat, ist es kaum jemals ohne Zuckungen und Geburtswehen abgegangen, aber sie sind auch noch immer bei gegenseitig versöhnlichem Geist ohne dauernde Schädigung des gesamten Organismus überwunden worden. Wir wissen ja, daß man Ströme wechselnder Richtung durch den Kommutator in gleichgerichtete Ströme verwandeln kann. Kämpfe entstehen und vergehen in der Zeit, aber die Ideen bleiben und werden zum dauernden Gemeingut der Menschheit. Der Redner besprach dann die Arbeiten, welche den Kongreß beschäftigen werden, und mahnte, alles, was in das metaphysische Gebiet übergreife, zu vermeiden. »Freuen wir uns«, schloß er, »daß wir in einem Zeitalter geläuterter Ansichten leben und wirken können, aber vergessen wir nicht, wieviel wir der Nachwelt schuldig bleiben, wieviel und wie Großes noch zu erreichen ist. Lassen Sie uns nicht müde werden in der Arbeit und setzen wir dem demütigenden ignorabimus, mit welchem Vorkämpfer der modernen Naturwissenschaft vor den höchsten Fragen des Daseins resigniert Halt gemacht haben, das aufrichtende laboremus tapfer entgegen.« Nachdem hierauf Oberbürgermeister Adickes von Frankfurt namens der Stadt den Kongreß willkommen geheißen, wurde v. Siemens (Berlin) zum Vorsitzenden gewählt. Derselbe schlug die Bildung von vier Sektionen vor: 1) für Theorie und Meßkunde, 2) für Starkstromtechnik, 3) für Telegraphie, Signale und Fernsprechwesen und 4) für Elektrochemie und besondere Anwendungen des elektrischen Stromes. Rathenau (Berlin) beantragte jedoch die Bildung einer fünften Sektion zur Beratung der Grundsätze für eine elektrotechnische Gesetzgebung, besonders für das Verhältnis zwischen Starkstrom- und Schwachstromanlagen. Er erinnerte an die beiden Gesetzentwürfe über das Telegraphenwesen und über elektrische Anlagen und bezeichnete es als dringende Aufgabe des Kongresses, die Grundsätze aufzustellen, nach welchen elektrische Anlagen gebaut werden können, ohne jemand zu schaden, während sie doch der Allgemeinheit nützen. Die Bildung einer solchen Sektion wurde darauf beschlossen.

Den ersten Vortrag hielt Kohlrausch (Hannover) über den geeignetsten Bildungsgang des Elektrotechnikers. Seine Absicht sei nur, zur Erörterung dieser Frage Anregung zu bieten. Nach einer Schilderung der verschiedenen Gruppen von Studierenden, welche sich auf den Hochschulen mit Elektrotechnik befassen, und des Wissensstoffes, welchen sie zu bewältigenhaben, empfiehlt er größere Berücksichtigung der Physik und Chemie, dagegen eine Einschränkung bei der Maschinenbaukunde. Es sei nicht nötig, daß der Elektrotechniker auch vollständiger Maschinenbauer werde, die Hochschule solle ihm nur die Fähigkeit gewähren, sich nachher auch in der Praxis auszubilden. Slaby (Berlin) ist dem gegenüber der Ansicht, daß der elektrotechnische Unterricht demjenigen für Maschinenbau angegliedert werden müsse. Erst im letzten Studienjahr solle ein einsemestriger Unterricht im Laboratorium erfolgen, vorher aber solle der junge Mann ein Jahr praktisch in einer Maschinenfabrik arbeiten. Siemens (Berlin) will die Elektrotechnik als eine Hilfswissenschaft betrachtet sehen und betont, daß derjenige, welcher sich ihr widmen solle, zuerst irgend ein bestimmtes Fach, sei es Maschinenbau, sei es Chemie 2c., ergreifen und dann die Anwendung der Elektrizität auf dieses Fach verstehen lernen müsse. Die Elektrotechnik solle Gemeingut der gesamten

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Techniker sein und es sei dafür zu sorgen, daß der praktisch Vorgebildete sich durch den Unterricht auch auf die Höhe der Wissenschaft erheben könne. Hartmann (Bockenheim) empfiehlt den Eintritt in die Praxis gleich nach der Schule, nicht erst nach dem Studium; für diese praktische Thätigkeit sei in der Regel ein Jahr ausreichend. Rathenau (Berlin) führte aus, daß nach den Grundsätzen von Kohlrausch nur Elektriker erzogen würden, die Gegenwart aber brauche Elektrotechniker, namentlich Konstrukteure, denn der Maschinenbau sei für die jetzigen elektrischen Anlagen das Wichtigste. Den zweiten Vortrag hielt Thompson (London) über Wechselströme. Er gab die ganze Entwickelung des Wechselstromsystems von seiner Entdeckung durch Faraday im J. 1831 bis zu seiner neuesten Stufe, dem Dreh- oder Dreiphasenstrom, und schloß mit den Worten: »In der Wellenlehre der Elektrizität liegt die zukünftige Ausdehnung der Elektrotechnik.«

In der zweiten Sitzung empfahl Löwenherz (Berlin) die Einführung einheitlicher Schraubengewinde in die Elektrotechnik und Feinmechanik. Hospitalier (Paris) behandelte die Frage der Benennungen und Zeichen in der Elektrotechnik. Wie für die Mathematik, so wünscht er auch für die Elektrotechnik einheitliche und in allen Ländern gleich verständliche Bezeichnungen. »Drehstrom« erscheint ihm z. B. als ein recht unglücklicher Name, ebenso führten die Worte »Arbeit«, »Leistung«, »Kraft« den Ausländer irre. Im Anschluß daran kam auch die Berechnung der Leistung einer Maschine nach Pferdekräften zur Sprache, und Engländer, Franzosen und Deutsche vereinigten sich in dem Wunsch, daß die Pferdekraft (HP) wie die Pferdestärke (PS) bald verschwinden, und das »Kilowatt« als Einheit eingeführt werden möge. Zur Beratung der verschiedenen hierbei gemachten Vorschläge wurde ein besonderer Ausschuß gebildet. Zum Schluß sprach May (Frankfurt) über diejenigen Vorschriften, welche vom Standpunkte der Feuersicherheit für elektrische Leitungen zu erlassen wären. Er verlangt für diese jetzt vielfach auseinandergehenden Vorschriften Einheitlichkeit und strenge Durchführung, dagegen sollten sie vermeiden, zu sehr ins einzelne zu gehen. Die Aufstellung allgemeiner Grundsätze hierüber erwartet er von den Beratungen der fünften Sektion.

In der dritten Sitzung berichtete Kittler (Darmstadt) über die Beratung der Sektion für elektrotechnische Gesetzgebung. Die Sektion hat es nicht für ihre Aufgabe erachtet, die beiden einschlägigen Gesetzentwürfe einer Kritik zu unterwerfen oder etwa einen neuen Entwurf aufzustellen, sondern wollte sich darauf beschränken, nach gegenseitigem Meinungsaustausch in einer allgemein gehaltenen Erklärung Material für eine künftige Gesetzgebung zu beschaffen. Diese Erklärung wurde in der Sektion und auch in der Hauptversammlung einstimmig angenommen. Sie lautet: »Der internationale Elektrotechnikerkongreß zu Frankfurt a. M. im J. 1891 erklärt: 1) öffentliche Vorschriften, welche die Errichtung und den Betrieb elektrischer Anlagen betreffen, haben den Grundsatz zu beachten, daß jede solche Anlage gegen den Einfluß andrer Anlagen geschützt sein soll. Einer grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Schwachstrom- und Starkstromanlagen bedarf es hierbei nicht. 2) Die gegenseitige Beeinflussung elektrischer Leitungen ist praktisch nicht gänzlich zu vermeiden. Es muß deshalb als genügend betrachtet werden, diese Einwirkungen so herabzumindern, daß sie den nutzbaren Betrieb nicht hindern,