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Meyers Konversationslexikon

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

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Gesundheitspflege (gesundheitliche Wohnungspolizei)

Den zweiten Vortrag hielt Stübben - Köln über die Handhabung der gesundheitlichen Wohnungspolizei. Der Vortragende gab eine Reihe von Zahlen über die Verhältnisse der kleinen Wohnungen in großen Städten, wie sie aus Erhebungen hervorgegangen sind, an denen sich auch der Verein beteiligt hat. Aus diesen Zahlen folgt, daß durchschnittlich die Wohnungen um so dichter bevölkert sind, je schlechter sie sind; daß 1 cbm Raum in den schlechtesten Wohnungen mehr Miete kostet als in den bessern, sowie daß die Mieter einen um so größern Bruchteil ihres Einkommens auf die Miete verwenden müssen, je geringer dies Einkommen ist. Diese Verhältnisse veranlassen Vortragenden zur Aufstellung der folgenden Leitsätze: I. Die Feststellung der Übelstände im Wohnungswesen betreffend: 1) Die durch das Anschwellen der städtischen Bevölkerung sich verschlimmernden Wohnungsübelstände beruhen auf der ungenügenden Zahl, dem hohen Preise, der schlechten Beschaffenheit, der zweckwidrigen Benutzung der Gebäude und auf der unvollkommenen Regelung des Rechtsverhältnisses zwischen Mieter und Vermieter. 2) Um die vorhandenen Mißstände deutlich zu erkennen, ist den Stadtverwaltungen eine eingehende Untersuchung der herrschenden Wohnungsverhältnisse zu empfehlen und zwar nach Art des vom Verein für Sozialpolitik 1876 aufgestellten Fragebogens oder noch besser nach Art der von Prof. Bücher beschriebenen Baseler Wohnungsenquete von 1889. Auch auf die unbenutzten Wohnungen und die zur Bebauung bereit stehenden leeren Grundstücke ist diese Erhebung auszudehnen. II. Die Mittel zur Bekämpfung der Übelstände im Wohnungswesen sind: A. bei Neubauten: 1) Errichtung zweckmäßiger neuer Wohnungen für die unbemittelten Volksklassen durch Private, Vereine und Arbeitgeber (letzterer nach Bedarf mit Einschluß der Gemeinde und des Staates); 2) Beförderung dieser Neubauten seitens der Gemeinde und des Staates durch Erleichterung der Lasten und Abgaben, durch Fertigstellung einer ausreichenden Zahl von bebauungsfähigen Straßen und Bauplätzen, durch Verbesserung der Verkehrseinrichtungen, durch Beseitigung entbehrlicher Erschwerungen aus der Bauordnung; 3) Ergänzung der Gesetzgebung in Bezug auf die Umlegung und Zusammenlegung der nach Lage, Gestalt und Größe zur Bebauung ungeeigneten städtischen Landparzellen in bebauungsfähige Baugrundstücke; 4) Verhinderung gesundheitlich unzweckmäßiger Neubauten (Reichsbauordnung und Einzelbauordnungen; vgl. den Entwurf reichsgesetzlicher Vorschriften zum Schutze des gesunden Wohnens, beschlossen vom Verein für öffentliche G. auf der Versammlung zu Straßburg 1889). B. Bei bestehenden Wohnungen: 1) Verbesserung der schlechten Wohnungen durch Private und Vereine; 2) Verwaltung von Mietshäusern seitens gemeinnütziger Vereine; 3) gesetzliche Regelung des Mietvertrages und der Wohnungsbenutzung (Wohnungsgesetzgebung, Reichswohnordnung); 4) fortwährende Überwachung des Vermietungs- und Wohnungswesens durch besondere Behörden (Wohnungsämter). Betreffs dieser Wohnungsämter verlangt Vortragender III. durch Gesetz zu regelnde Aufgaben und Befugnisse, als: 1) eine regelmäßige Wohnungsschau zu halten behufs Feststellung gesundheitsschädlicher Bauzustände und gesundheitswidriger Wohnungsbenutzung (vgl. II, A 4); 2) die Schuldigen zur Beseitigung der Mißstände anzuhalten, gegebenen Falls die Bestrafung zu veranlassen; 3) in schweren Fällen die Bewohnung bestimmter Räume oder Gebäude bis auf weiteres oder dauernd zu untersagen; 4) äußersten Falls die Niederlegung von Gebäudeteilen oder ganzer Gebäude und Gebäudegruppen durch Enteignung derselben seitens der Gemeinde zu verlangen; 5) die Hausordnungen und Mietsverträge zu überwachen. Vortragender ging nun im einzelnen auf die gesundheitsschädlichen Bauzustände ein und machte Vorschläge zur Beseitigung der Feuchtigkeit, des Luftmangels etc. sowie auch zur Beseitigung oder Verhinderung einer gesundheitswidrigen Benutzung der Wohnungen, um sodann für die Organisation der Wohnungsämter IV. folgende Vorschläge zu machen: 1) Die Wohnungsämter bedürfen als Zweig der Wohlfahrtspolizei des innigsten Zusammenhanges mit der Baupolizei und der Gemeindeverwaltung. 2) Sie sollen der Gemeindeverwaltungsbehörde (Magistrat oder Bürgermeister) in allen Fällen, in welchen es sich nicht um Verpflichtungen der Gemeinde handelt, unterstellt sein. In Fällen der Gemeindeverpflichtung steht den Wohnungsämtern nach erfolgloser Verhandlung mit der Gemeindeverwaltung die Berufung an die Gemeindeaufsichtsbehörde frei. 3) Die Wohnungsämter bedürfen wenigstens eines Mitgliedes aus dem ärztlichen und eines aus dem bautechnischen Berufe. 4) Organe der Wohnungsämter sind bautechnisch gebildete Wohnungsbeamte und Wohnungspfleger, Wohnungskommissare, Wohnungsinspektoren (Inspectors of nuiances). 5) In kleinern Orten können die Obliegenheiten der Wohnungsämter den Ortspolizeibehörden übertragen werden. - Der Korreferent Zweigert - Essen machte auf die großen Schwierigkeiten aufmerksam, welche die Organisation einer Wohnungspolizei verursachen würde, namentlich im Hinblick auf die tiefen Eingriffe in das private Recht und die starken Belästigungen, wie sie durch die Thätigkeit einer derartigen Polizei verursacht werden würden. Im übrigen bedürfe es einer besondern Gesetzgebung dazu nicht; es sei überall möglich, auf dem Boden der bestehenden Gesetze mittels Ortsstatut eine entsprechende Ordnung aufzustellen, nur eins fehle, nämlich die Befugnis der Enteignung aus hygienischen Gründen, und die sei wohl vorläufig noch nicht so nötig. Zu wünschen sei eine Befugnis der Polizei, bei vermuteter Überfüllung einer Wohnung die höchste Zahl von Menschen vorzuschreiben, die darin leben dürfen. Auf Grund der polizeilichen Anmeldepflicht lasse sich dann leicht Bestrafung bei Übertretung dieser Vorschrift herbeiführen. Im übrigen sei es ratsam, mit polizeilichen Maßregeln erst dann hervorzutreten, wenn andre Wege sich als unwirksam erwiesen haben. In der Diskussion schilderten Göpel-Frankfurt a. O. und Hasse-Leipzig die Sterblichkeitsstatistik ihrer Städte, welche, auf die einzelnen Häuser bezogen, ein gutes Hilfsmittel zur Beurteilung der hygienischen Verhältnisse jedes Hauses abgebe. Baumeister-Karlsruhe empfahl, die Zwangsenteignung aus hygienischen Gründen in das Gesetz aufzunehmen, und zwar nicht nur als Recht, sondern auch als Pflicht der Gemeindebehörden. Die Bauordnungen der Städte seien in hygienischer Hinsicht noch immer nicht genügend, auch die neue Berliner nicht, und letztere habe überdies den großen Nachteil, daß sie sich unterschiedslos auf ein Gebiet von über 10 km Halbmesser beziehe. Dadurch entstehe der große Adelstand, daß sich die baulichen Zustände der Innerstadt schließlich auch auf die Peripherie und die Vororte übertragen. Es sei bei einem so großen Gebiet notwendig, die einzelnen Teile desselben verschiedenartig zu behandeln. Beispielsweise habe