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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Aktie und Aktiengesellschaft

Anmerkung: Fortsetzung des Artikels 'Aktie und Aktiengesellschaft III. Volkswirtschaftliche Bedeutung'

den Fortschritt und elementar wirkendes Unheil gleichmäßig in sich bergen.

Für Unternehmungen, welche wegen der Größe der erforderlichen Kapitalien, oder wegen des vorhandenen Risikos, oder wegen mangelnder Rentabilität bei doch vorhandenem gemeinwirtschaftlichen Interesse dem Einzelnen auch in Verbindung mit wenigen andern Einzelnen unerschwinglich sind, ist sie unentbehrlich. Die Entwicklung des Eisenbahnwesens (1878 wurde das auf der ganzen Erde in Eisenbahnen angelegte Kapital, das bis auf einen kleinen Bruchteil durch Aktiengesellschaften teils unmittelbar, teils mittels von ihnen ausgegebener Obligationen zusammengebracht worden, auf 74600 Mill. M. geschätzt) wie der Dampfschiffahrt, die großen, in fortgesetzter Entwicklung begriffenen Erfindungen, die zahlreichen öffentlichen, dem Gemeinwohl, der Belehrung oder dem gewerblichen Gesamtinteresse eines Ortes dienenden Anlagen und Anstalten geben die Belege hierfür. In der Aktiengesellschaft vermögen verfügbare Einzelkapitalien, die als solche sich unproduktiv verflüchtigen würden, sich zu sammeln und vereint die Vorteile des Großkapitals zu erringen. Sie vermag aus unkräftigen und sich gegenseitig beeinträchtigenden Einzelunternehmungen ein einheitliches, zielbewußt zu leitendes Ganzes zu bilden. Sie bietet hervorragenden Unternehmertalenten das ergiebige Bethätigungsfeld und die unabhängige Stellung, welche sie unter einem mit individueller Persönlichkeit hervortretenden Geschäftsherrn vermissen würden, und macht zugleich der Anziehungskraft des abhängigern und schematischern Staatsdienstes eine heilsame, dem wirtschaftlichen wie überhaupt dem öffentlichen Leben erhebliche Individualitäten zuführende Konkurrenz. Sie bietet dem Staat für dessen finanzielle Operationen, Anleihen, Konversionen (s. d.) die geeignete kapitalkräftige Vermittelung. Bei umfassender Kapitalkraft gut geleitet und auf starke Reservenbildungen wie auf eine Stetigkeit in betreff der Höhe der den Aktionären zuzuführenden Dividenden bedacht, wird sie durch ihr Wirken wie durch ihr Beispiel zu einem bedeutsamen Stützpunkt für eine gesunde und besonnene Entwicklung des wirtschaftlichen Lebens überhaupt. Sie gewährt in der sog. Familienaktiengesellschaft ein Mittel zur Auseinandersetzung der Erben über das ihnen angefallene Einzelunternehmen, vermöge dessen sie die Anteile daran realisieren können, ohne die Vermögensteile dem Geschäft zu entziehen.

Unter den Übeln steht im Vordergrunde die besondere Geeignetheit der Aktiengesellschaft zur Ausbeutung des leichtgläubigen und bei erregter Gewinnsucht jeder Illusion fähigen Publikums. In gewissenlosen Händen ist insbesondere in Zeiten wirklichen oder scheinbaren Aufsteigens der Konjunktur die Gründung von Aktiengesellschaften in Wahrheit das Mittel, Gold zu machen. Aktiengesellschaften werden dann zahlreich bloß um des Gewinns an der Gründung willen errichtet. Die auf jedes beliebige Objekt hin in ungemessener Höhe geschaffenen Aktien werben mit ihren Ziffern, unterstützt durch trügerische Prospekte, um Eingang beim Publikum. Die eintretenden Kurssteigerungen, zum Teil durch fiktive Geschäfte hervorgerufen, wecken die Gewinnsucht immer weiterer Kreise, die an weitere Steigerungsfähigkeit glauben und wieder auf Kosten ihrer Abnehmer verdienen wollen. Der mühelose und ungesunde Verdienst erzeugt Korruption, ungesunden Luxus ↔ und ungesunde Steigerung aller Preise. Der Taumel endet mit den empfindlichsten Vermögensverlusten namentlich des mittlern und kleinern Kapitals und mit Verbitterung gegen die sog. herrschenden Gesellschaftsklassen und gegen die staatlichen Institutionen. Jede der großen, periodisch wiederkehrenden Handels- und Wirtschaftskrisen weist diese Erscheinungen auf. Zudem sind es gerade bestimmte Kategorien von Aktien, welche, wie die Aktien überhaupt einen großen Teil der an den Börsen gehandelten Effekten ausmachen, wegen Erstreckung auf ein internationales Verkehrsgebiet, z. B. Diskonto-Kommanditanteile, Österr. Kreditaktien, einen bevorzugten Gegenstand des Börsenspiels bilden. Wollte man unter dem Eindruck dieser Wirkungen, die ihren Grund in untilgbaren Schwächen der Menschennatur haben, der Forderung, die Aktiengesellschaft überhaupt zu beseitigen, nachgeben, so würde sich nach Überwindung der Wirkungen sofort das Verlangen auf ihre Wiederzulassung im Hinblick auf die berechtigten Ansprüche des Unternehmungsgeistes und auf ihr Bestehen in den Nachbarländern gebieterisch geltend machen. Die Aktiengesellschaften haben ferner einen erheblichen Anteil an einer eintretenden Überproduktion. Vermöge ihrer Natur, insbesondere auf die Fabrikation in Massen herzustellender Durchschnittsware angewiesen, arbeiten sie, um die vorhandenen Einrichtungen und ein vielleicht zu hoch bemessenes Kapital oder eine unter aussichtsreicherer Konjunktur bewirkte Kapitalvergrößerung nicht ungenutzt zu lassen, auch über das derzeitig vorhandene Bedürfnis hinaus.

Die Aktiengesellschaft ist überhaupt keineswegs eine für alle Geschäftsarten geeignete Unternehmungsform, und gerade in der leichten Verdrängung des Einzelunternehmens aus den lediglich für dieses geeigneten Gebieten durch sie ist einer ihrer wesentlichen Nachteile zu finden. Freilich erlangt sie eben bei wirklichem Großkapital und ihrer gewissermaßen öffentlichen Rechenschaftslegung leicht Kredit und ihre Dauer ist von persönlichen Schicksalen der Mitglieder unabhängig. Aber diesen Vorzügen stehen große Schwächen bei Vergleichung mit dem Einzelunternehmen gegenüber. Sie ist gerade wegen jener Öffentlichkeit den Einblicken seitens der Konkurrenz ausgesetzt. Sie arbeitet wegen des komplizierten Verwaltungsapparats kostspieliger. Der Umstand, daß bei den Aktionären wegen ihres Wechsels das Interesse am Ertrage und das des Eigentümers des Unternehmens nicht zusammenfallen, trägt in das Gebaren der Aktiengesellschaft eine Zwiespältigkeit und eine gewisse Unwahrhaftigkeit hinein. Der Aktionär ist nicht sehr geneigt, zum Nachteil seiner Dividende erhebliche Opfer für eine Stärkung des Unternehmens zu bringen. Er läßt die Gesellschaft lieber Schulden gegen üblichen Zins aufnehmen, statt einen Teil seiner Erträge zur Verfügung zu stellen. Die Leiter des Unternehmens wollen aber, auch wenn sie nicht an ihre Tantieme denken, die Aktionäre möglichst zufrieden stellen und sind auch insbesondere von den Geschäftshäusern, welche am Aktienkapital hauptsächlich beteiligt sind, nicht unabhängig. Der Aktiengesellschaft haftet ferner eine gewisse Starrheit in ihren Bewegungen an, welche dem Einzelunternehmen fremd ist. Der Einzelunternehmer kann den anfänglich zu hoch gegriffenen Fonds jederzeit vermindern, ihn in gewissen Grenzen stets entsprechend dem Bedürfnis durch Zuschüsse vermehren, also mit einem

Anmerkung: Fortgesetzt auf Seite 297.