Anmerkung: Fortsetzung des Artikels 'Aktie und Aktiengesellschaft II. Geschichtliches'
traf das Gesetz der Vorwurf nicht mit Unrecht, daß es gegen bestimmte, offenbarem Betruge dienende Formen der Ausbeutung
nicht erschwerende Schutzwehren aufgerichtet hatte und daß es ihm bei im ganzen richtigen Principien doch an reifer und
kräftiger Ausgestaltung der einzelnen Normen wie an der erforderlichen Schaffung schärferer und überall deckender
Verantwortlichkeitsfolgen gebrach.
In der zweiten Hälfte des Jahres 1870 bis Ende 1873 sind in Preußen (nach Engel) 838 Aktiengesellschaften mit einem
Gesamtkapital von 3229 Mill. M. (nach der amtlichen Begründung zum Aktiengesetzentwurf vom 7. Sept. 1883 843 Gesellschaften
mit 2484 Mill. M.) errichtet worden. Eine hervorragende Rolle spielten dabei diejenigen, bei welchen ein hohes Grundkapital
vermöge der Übereinstimmung der Interessen aller zunächst Beteiligten, die die Gesellschaft nur um des Vorteils aus dem
beabsichtigten Weiterverkauf der Aktien willen schufen, durch unterwertige Einlagen von Fabriketablissements oder Grundstücken
gebildet wurde. So erlangte man Aktien in beliebiger Menge mit großen Ziffern für erheblich darunter zurückbleibende
Aufwendungen und Leistungen. Der Hergang wurde gänzlich nach Belieben, und wie es für den beim Weiterverkauf der Aktien zu
erzielenden Eindruck am besten paßte, insceniert. In der Reichstagssitzung vom 17. März 1873 regte der Abgeordnete Lasker
eine neue gesetzliche Regelung an. Die Reform blieb dauernd Gegenstand von Vorschlägen wirtschaftlicher Körperschaften und
Vereine wie in der Litteratur. Nach längerm Abwarten wegen der seit 1873 wesentlich veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse und
nach gründlicher Vorbereitung und Beratung des 1884 dem Reichstage vorgelegten Entwurfs kam das am 18. Juli 1884
verkündete neue Gesetz zu stande. Es bestrebt sich, die oben an dem Gesetz von 1870 gerügten Mängel zu beseitigen. Seine
Hauptbedeutung beruht in der klaren und scharfen Kennzeichnung der erforderlichen Gründungshergänge und Gestaltung
derselben im Sinne der Offenlegung des Erheblichen unter Hereinziehung der ersten Ausgabe der Aktien an das Publikum in die
Gründungshergänge, sowie in der Auferlegung von Prüfungspflichten in Bezug auf Wahrheit und Maßeinhaltung bei jenen
Hergängen, alles dies unter Verantwortung, und zwar gegenüber der Gesellschaft. Auch ist mit manchen irrationellen
Zugeständnissen, die in der Zeit der Staatsgenehmigung an ein angebliches Bedürfnis gemacht worden waren, wie z. B. der
gesetzlich zugelassen gewesenen Stellung der Interimsscheine auf den Inhaber nach Einzahlung von 40 Proz. des Aktienbetrags,
so daß für die übrigen 60 Proz. keine Person mehr haftete, gebrochen. In der seit 1888 mit der steigenden Konjunktur verknüpften
neuen Gründungsepoche bilden die Umwandlungen bestehender Etablissements wieder einen erheblichen Prozentsatz. Unter
den vom 1. Jan. bis 31. Aug. 1889 in Deutschland gegründeten 226 Aktiengesellschaften sind, soweit ersichtlich, nur 64 neue
Unternehmungen. In der Zeit vom 10. Okt. 1889 bis 19. April 1890, in welchem Zeitraum bereits die Konjunktur weniger stark
anzog, sind immer noch 179 Aktien- oder Aktienkommanditgesellschaften gegründet worden, unter denen sich 55 Umwandlungen
bestandener industrieller Etablissements, neben zum allermindesten 34 Umwandlungen von Genossenschaften befinden. Der
Gründergewinn, der bei denselben offenbar ↔ einen erheblichen Faktor bildet, wird hierbei jetzt in dem offen
den Aktienkäufern abgeforderten Agio über den Paribetrag der Aktie gesucht, indem über den Substanzwert des Unternehmens
hinaus der bisherige gute Ertrag desselben im Hinblick auf die steigende Konjunktur als präsumtiv dauernder vergütet werden soll.
So wenig die Gefahren dieser Agiotage zu verkennen sind, so darf man sie doch mit den Praktiken der Jahre 1871–73 nicht auf
eine Linie stellen, um deren Beseitigung sich das Gesetz von 1884 entschieden verdient gemacht hat.
In Österreich gilt noch das Recht des unveränderten Deutschen Handelsgesetzbuchs, also
die Staatsgenehmigung. 1874 ist im Abgeordnetenhause ein Gesetzentwurf, nach welchem unter Beseitigung derselben die
Gesellschaft wesentlich entsprechend den nach den Erfahrungen von 1871 bis 1873 in Deutschland und Österreich gemachten
Reformvorschlägen geregelt werden sollte, durchberaten worden. Es hat aber ebensowenig damals wie bisher ein Abschluß
stattgefunden. Von 1869, in welchem Jahre dort bereits ein Gründungsfieber vorhanden war, bis inkl. 1873 wurden ungeachtet
des Erfordernisses der Staatsgenehmigung 660 neue Aktiengesellschaften gegründet. Das eingezahlte Aktienkapital nahm von
Anfang 1869 bis April 1873 um 1314 Mill. Fl. zu. In den 2 ½ Jahren von Anfang 1870 ab vermehrten sich die Banken um das
Dreifache und die Industriegesellschaften weit über das Doppelte. Für Ungarn, wo es
schon vorher keiner Staatsgenehmigung bedürfte, regelte das dortige Handelsgesetzbuch vom 16. Mai 1875 die
Aktiengesellschaft. Es beschränkt das Institut nicht auf Handelsgesellschaften und steht auf dem Boden des deutschen Gesetzes
von 1870 unter mannigfachen Verbesserungen desselben, indem es insbesondere eine Verantwortlichkeit der Gründer bereits
normiert. Eine Kommanditgesellschaft auf Aktien kennt es nicht. Außer in Österreich bedarf auch in Rußland, Schweden und den
Niederlanden die Aktiengesellschaft der Staatsgenehmigung. Sonst herrscht, soweit bekannt, überall, auch in den Vereinigten
Staaten, Errichtungsfreiheit unter gesetzlichen Normativbestimmungen, in Belgien auf Grund der Revision des Handelsrechts von
1873 und eines die Nichtigkeiten des franz. Systems einschränkenden Gesetzes von 1886, in der Schweiz, Italien, Spanien und
Portugal auf Grund ihrer Kodifikationen des Handels- oder Obligationenrechts in neuester Zeit.
III. Volkswirtschaftliche Bedeutung.
Die Gesamtzahl der deutschen Aktiengesellschaften, welche in der Zeit vom 1. April 1887 bis 31. März 1888 Bilanzen
veröffentlicht haben, beträgt mit Ausschluß der in Liquidation befindlichen 2143 mit einem eingezahlten Gesamtkapital von
4876 Mill. M. In Österreich bestanden im April 1873 781 Aktiengesellschaften mit einem eingezahlten Kapital von 2073 Mill. Fl.,
Ende 1881 freilich entsprechend dem zunächst erfolgten erheblichen Rückgänge, der zahlreiche Gesellschaften verschwinden
ließ und dem alsdann ein mäßiger Aufschwung folgte, nur 429 Gesellschaften mit 1468 Mill. Fl. Kapital.
Diese Zahlen wie die sonst im Laufe der Darstellung erwähnten zeigen, welchen breiten Raum die Aktiengesellschaft im
wirtschaftlichen Leben der Nationen einnimmt. Sie ist viel gepriesen und viel gescholten worden. Beides nicht mit Unrecht. Denn
sie gehört zu denjenigen Gebilden schaffenden Menschengeistes, welche fruchtbringen-
Anmerkung: Fortgesetzt auf Seite 296.