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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Anatomie

heiten sind begleitet von gröbern oder feinern Veränderungen in der Lagerung oder Struktur verschiedener Organe und ihrer Gewebe, und sofern die A. dies erforscht, heißt sie pathologische A.

Die A. des gesunden Menschen teilt sich weiterhin, je nach der Methode, die sie befolgt, in die systematische und die topographische. Die systematische A. untersucht und beschreibt die Teile in einer Ordnung, die auf die Ähnlichkeit in dem Bau und den Verrichtungen derselben Rücksicht nimmt und daher diejenigen nebeneinander stellt, welche im Körper selbst zu gewissen gemeinschaftlichen Zwecken in Verbindung stehen (d. h. ein System von Teilen bilden). Bei dieser Behandlungsweise, welche vorzüglich zum Studium der Physiologie vorbereitet, pflegt man die A. in folgende sechs Lehren abzuteilen: 1) Osteologie (s. d.) oder Lehre von den Knochen mit Einschluß der Gelenkknorpel (Chondrologie). 2) Syndesmologie oder Bänderlehre (s. Bänder). 3) Myologie oder Muskellehre (s. Muskeln). 4) Angiologie oder Gefäßlehre (s. Gefäße und Gefäßsystem). 5) Neurologie oder Nervenlehre (s. Nerven). 6) Splanchnologie oder Eingeweidelehre (s. Eingeweide).

Die topographische A. unterscheidet am Körper teils nach den durch Einschnitte, Gelenke, Scheidewände u. dgl. natürlich gegebenen Grenzen, teils mit Hilfe gewisser in Gedanken gezogener Linien größere und kleinere Abteilungen oder Gegenden (Regionen) und beschreibt die in jeder derselben neben-, unter- und ineinander liegenden Abschnitte der oben erwähnten Systeme von außen nach innen zu. Man teilt dabei den Körper in den Stamm und die Gliedmaßen. Der Stamm besteht aus dem Kopfe und dem Rumpfe; der Rumpf zerfällt in Hals, Brust und Bauch; die Gliedmaßen sind teils Brustglieder oder Arme, teils Bauchglieder oder Beine. An jedem dieser Hauptteile unterscheidet man nun wieder verschiedene Abteilungen und Unterabteilungen. Diese A. der Gegenden nennt man, da ihre Kenntnis vorzüglich für den operierenden Chirurgen wichtig ist, auch die chirurgische A. Topogr. Präparate nennt man diejenigen, an welchen die einzelnen Gewebssysteme (Muskeln, Arterien, Venen, Nerven und Knochen) in ihrer Lage zueinander sämtlich dargestellt sind. Zu den topogr. Präparaten gehören auch die an gefrorenen Kadavern gewonnenen Durchschnitte. Auch die A. für bildende Künstler ist wesentlich topographisch; sie hat vorzugsweise die Oberfläche des Körpers, die Abhängigkeit ihrer Form von den unterliegenden Teilen und insbesondere von den Muskeln in ihren verschiedenen Spannungszuständen, endlich die allgemeinen Größenverhältnisse der einzelnen Körperteile untereinander in Betracht zu nehmen.

Die praktische A. ging in ihrer geschichtlichen Entwicklung der theoretischen stets voraus. Erst als man jene allgemeiner zu betreiben begann, bildeten sich allmählich bestimmte Regeln über das Verfahren bei der Zergliederung, d. h. es entstand eine Technik der A., doch versuchte man erst im 17. Jahrh. den Gegenstand in besondern Schriften zu behandeln. Gegenwärtig haben Anatomen wie Hyrtl, Budge, Meyer, Henke, Lauth auch diesen praktischen Bedürfnissen in besondern Lehrbüchern Rechnung getragen. Dennoch aber wird jetzt wie früher das meiste dem mündlichen Unterricht durch den eigens dazu. angestellten Prosektor überlassen. Gewöhnlich unterscheidet man in der anatom. Technik die Sektionen und das Präparieren. Sektion nennt man die kunstgerechte Öffnung der drei großen Höhlen des menschlichen Körpers, verbunden mit der Untersuchung der in ihnen befindlichen Eingeweide und Teile. Das Präparieren besteht in der kunstgerechten Trennung der einzelnen Teile voneinander, so daß sie ihrer Gestalt wie ihrer Lage nach deutlich unterschieden werden können; das auf diese Weise Dargestellte nennt man anatomisches Präparat, so daß man von Knochen-, Muskel-, Gefäß- und Nervenpräparaten spricht. Das Präparieren der Knochen geschieht durch Entfernung sämtlicher Weichteile, durch Kochen, Macerieren und Bleichen. Werden sämtliche Knochen wieder durch Draht in die natürliche Lage zu einem Ganzen verbunden, so entsteht das künstliche Skelett, während das natürliche Skelett durch Beibehalten der natürlichen Verbindungsmittel, der Bänder, gebildet wird. Zur bessern Darstellung der Gefäße, namentlich in ihren feinern Verzweigungen, bedient man sich gewöhnlich der Injektionen oder Einspritzungen von gefärbten und erhärtenden Flüssigkeiten in die Gefäße, worauf man die letztern mit dem Messer von den umgebenden Muskeln und Weichteilen isoliert. In neuerer Zeit bedient man sich auch noch einer andern Präparation der Gefäße; man injiziert dieselben mit einer Masse, die sich in einer ätzenden Flüssigkeit nicht löst, während die übrigen Körperbestandteile sich darin sämtlich auflösen (Korrosionspräparate). Um diejenigen Präparate, deren Anfertigung viel Zeit und Mühe erfordert, oder die seltene Abweichungen vom normalen Bau und interessante krankhafte Veränderungen der Körperteile darstellen (pathol. Präparate), behufs des Vortrags der A. möglichst in ihrer natürlichen Form aufzubewahren, trocknet man sie an der Luft oder durch Bestreichen mit Holzessig und überzieht sie dann mit einem durchsichtigen Firnis (trockne Präparate); oder man bringt sie in Flüssigkeiten, durch die sie vor der Fäulnis geschützt werden, wie Alkohol von 50 bis 90°, Carbolsäure, Sublimatlösung u. dgl., oder behandelt sie mit der Wickersheimerschen Flüssigkeit (s. d.). Solche Präparate, in besondern Schränken und Zimmern aufgestellt, bilden die anatomischen (oder pathol.) Sammlungen oder Museen. Da es unmöglich ist, alle Teile in ihrer Integrität aufzubewahren, da namentlich Farbe und feine Faserungen stets verloren gehen, so hat man es mit Glück versucht, sie durch die plastische Kunst nachzubilden, und zwar aus Holz oder Elfenbein, wie das Gehörorgan, oder aus Wachs (Wachspräparate) oder Papiermaché. Mit allgemeinerm Nutzen und verhältnismäßig geringerm Kostenaufwand wandte man aber längst die Zeichenkunst zu anatom. Darstellungen an. Solche Abbildungen, die man anatomische Tafeln nennt, hatte bereits Aristoteles gefertigt und seinen (verlorenen) anatom. Schriften beigegeben. Im 16. Jahrh. beschäftigten sich die größten Maler, wie Leonardo da Vinci, Michelangelo, Raffael, Tizian, Dürer, mit solchen Zeichnungen.

Geschichtliches. Die außerordentliche Wichtigkeit der A. als Wissenschaft für den Arzt wie für den Physiologen und Naturforscher hatte man schon frühzeitig erkannt, wenn es sich auch niemals mit Gewißheit ermitteln lassen wird, wer zuerst genauere anatom. Studien, zumal an menschlichen Leichnamen, machte. Im Altertume verhinderten lange Zeit religiöse Ansichten, die tote Hülle des Menschen, selbst zur Befriedigung einer edeln, dem Lebenden