Anmerkung: Fortsetzung des Artikels 'Centralisation'
gegen kann man von einer decentralisierten Rechtspflege heutzutage nicht sprechen: das System der letztern im modernen Staate ist
trotz der Gliederung der
Gerichte und des Instanzenzuges unbedingt centralisiert, denn der Begriff Decentralisation setzt Selbständigkeit des betreffenden
Organs voraus.
Die C. tritt in Deutschland zuerst im Gegensatze zur feudalen Zersplitterung und ihren Nachwirkungen resp. Überresten zu Tage. Zu diesen
gehört das sog. Provinzialsystem für die Landesverwaltung, nach welchem nicht nur jeder Teil des Gesamtgebietes sein eigenes öffentliches Recht und, wenn
überhaupt, seine eigenen Landstände, sondern auch seine eigene Verwaltung hatte und die Einheit des Ganzen nur in wenigen Fällen zur rechtlichen Geltung
kam, vielmehr thatsächlich nur auf der Person des Staatsoberhauptes beruhte; das war z. B. das Verwaltungssystem Friedrichs d. Gr. Unter solchen Umständen
konnte jener Partikularismus, der, auf die althergebrachte Selbständigkeit pochend, der organischen Verbindung zu und mit einem größern Ganzen
widerstrebte, dem Gedanken der Staatseinheit siegreichen Widerstand leisten, übrigens war nach dem Provinzialsystem die Verwaltung jedes einzelnen
Landesteils für sich mehr centralisiert, als dies nach dem modernen Centralisationssystem möglich ist, während dem staatlichen Ganzen gegenüber das
Provinzialsystem, trotz verschiedener, im Interesse der Einheit allmählich durchgeführter Modifikationen, einen für die Dauer nicht haltbaren Grad der
Decentralisation bezeichnet. Sowie nun infolge dessen die Einheit der Verwaltung nach dem Realsystem, d. h. nach Centralisierung verschiedener
Verwaltungsressorts, angestrebt und nach und nach durchgeführt wurde (in Preußen geschah dies erst durch die große Steinsche Reformgesetzgebung), so schien
die Besorgnis vor den Gegnern dieser Einheit die Vernichtung aller Selbständigkeit der Teile, von den Provinzen an durch alle Arten von Lokalgemeinden
hindurch und bis zur individuellen Freiheit herab, wenigstens der Staatsverwaltung und ihren Organen gegenüber, zu fordern. So entstand in manchen Ländern
der centralisierte Polizeistaat, insbesondere in Österreich und Frankreich im Laufe des 17. und 18. Jahrh., d. i. die polizeiliche Kontrolle und Leitung
des gesamten Lebens, und, als der prägnanteste Ausdruck dieser Richtung, der absolute Fürstenstaat (s. Absolutismus) mit dem Princip «der Staat bin ich»
samt seiner herrschenden Bureaukratie. Bei der Stärke dieser Richtung, welche sich zu ihrer Rechtfertigung an die antike, namentlich röm. Staats- und
Fürstenidee, sowie an die Autorität der Bibel und Kirche anlehnte, mußten die autonomen Gebilde des Mittelalters entweder vollständig eingehen oder doch
zur gänzlichen Ohmnacht abgeschwächt werden.
Die Beseitigung der feudalen Privilegien, die Aufhebung der weit ausgedehnten Autonomie der Gemeinden und Korporationen, die Unterwerfung der
grundherrlichen und ständischen Gewalten unter die Staatsgewalt bildet das Hauptmoment der Ausbildung des modernen Staates. Je früher und energischer
dieser staatliche Umwandlungsprozeß sich vollzog, desto straffer wurde die Staatsthätigkeit centralisiert; in Frankreich viel früher und in viel größerm
Umfange als in Deutschland. Die Französische Revolution namentlich that sich durch rücksichtslose Beseitigung der noch vorhandenen Reste provinzialer und
kommunaler Selbständigkeit und gutsherrlicher Verwaltungsbefugnisse hervor, und erst nach der völligen Durchführung des konstitutionellen Systems begann
man in Frankreich ein Verständnis dafür zu gewinnen, daß eine zu weit getriebene C. der Verwaltung Gefahren und Übelstände im Gefolge habe. Doch ist bis
zur Stunde die franz. Verwaltung in hohem Grade centralisiert. In Deutschland wurde die C. nicht annähernd so streng durchgeführt wie in Frankreich. Die
Schwäche des Reichs und die Vielzahl der deutschen Territorien hatte in dieser Beziehung, neben manchen Nachteilen, auch ihre guten Seiten. An Stelle der
in Deutschland nie ganz überhörten Proteste gegen die Übergriffe der C. trat allmählich eine Klärung der Meinungen, wonach man es zwar aufgab, auf früher
überwundene Standpunkte zurückzukommen, aber doch auch, selbst von seiten der Fürsten und ihrer Regierungen, die Notwendigkeit einsah, ein anderes System
einzuführen, nämlich unter Erhaltung der politischen C. administrativ zu decentralisieren.
Die namentlich seit dem Sturze Napoleons Ⅰ. und der Gründung des Deutschen Bundes nicht ohne Einfluß franz. und engl. Muster eingeführten
Repräsentativverfassungen mit verantwortlichen Ressortministern, die genaue Bestimmung der Grenzen der Staatsgewalt, insbesondere der administrativen,
unter Wahrung der polit. und bürgerlichen Freiheitsrechte, die Aufnahme des Laienelements in den Dienst der Verwaltung, die Schonung geschichtlich
begründeter und noch lebensfähiger, nicht staatsgefährlicher Partikularitäten, die Überlassung der Autonomie an die Gemeinden in ihren rein lokalen
Angelegenheiten, der Aufbau der ganzen Verwaltung des Staates auf den natürlichen Gliederungen des Territoriums und die Abwälzung einer größern Anzahl
wichtiger Gegenstände zur Selbstverwaltung auf jene Gliederungen (vgl. die neuen Gemeinde-, Armen-, Schulgesetze, die preuß. Kreis- und Provinzialordnung
u. s. w.), endlich die Überweisung der administrativ-streitigen Sachen an besondere Verwaltungsgerichtshöfe: das waren die hauptsächlichsten Mittel, die
nach und nach, in mehr oder minder vollkommener Form, die Übel eines unnatürlichen Centralisationssystems zu heben bestimmt erscheinen, ohne daß sie die
Aufgabe haben können, eine die Einheit und Kraft des Staates beeinträchtigende Decentralisation zur Geltung kommen zu lassen. Die Hauptschwierigkeit liegt
darin, diejenigen Angelegenheiten, welche eine selbständige und darum auch verschiedenartige Behandlung und Erledigung seitens lokaler Behörden vertragen,
ohne daß dadurch die Einheit und Kraft des Staates gefährdet und allgemeine Interessen verletzt werden, herauszuheben und sie in geeigneter Weise
dezentralisiert verwalten zu lassen. (S. auch Centralverwaltung und Gemeinde.)
Vgl. Gneist, Verwaltung, Justiz, Rechtsweg u. s. w. (Berl. 1869); ders., Der Rechtsstaat (ebd. 1872; 2. Aufl. 1879).