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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsche Litteratur

Aber um nicht den Einfluß zu verlieren, machte die Geistlichkeit jenen weltlichen Neigungen Zugeständnisse. Der Pfaffe Lamprecht schilderte nach franz. Quellen die Wunderfahrten Alexanders d. Gr. (um 1125), der Pfaffe Konrad von Regensburg übertrug das franz. Nationalepos, das "Rolandslied" (um 1130). Vom Niederrhein wanderten diese Themata nach Bayern, wo der Welfenhof ein litterar. Centrum bildete. Und wie schon im Anfang des Jahrhunderts die Legende vom heil. Anno im mittelfränk. "Annolied" in die Beleuchtung der Welthistorie gerückt war, brachte derselbe Pfaffe Konrad in Bayern auf Grund niederrhein. Vorarbeiten eine große profane Weltgeschichte in Reimen zu stande, die "Kaiserchronik", deren Hauptreiz die novellistischen Episoden waren (um 1150). Umgekehrt verließen die Spielleute die allzu profanen Stoffe des 10. Jahrh., putzten die Heldensage im König Rother, die histor. Sage im Herzog Ernst im Zeitgeschmack mit Kreuzzugsabenteuern aus und zogen sogar Legenden, wie die von Orendel und Oswalt (um 1190), ungeniert in ihren verwegen übertreibenden burlesken Spielmannston herab. Ein elsäss. Fahrender, Heinrich der Gleißner, brachte die von niederländ. und franz. Geistlichen satirisch ausgebildete Tiersage (s. d.) in seinem "Reinhart" nach franz. Gedichten zuerst in deutsche Verse (um 1175). So nähern sich im Wettbewerb um die Gunst des ritterlichen Publikums die Geistlichen und die Spielleute einander in der Wahl der Stoffe. Vermittelte doch zwischen den feindlichen Parteien eine Zwittergattung, auch aus Frankreich überkommen, die Vaganten, verlodderte Studenten der Theologie und mißratene Kleriker, die singend und bettelnd durchs Land zogen und eine köstliche, ausgelassene Wander-, Trink- und Liebeslyrik voll heidn. Weltlust in leichtflüssigem Latein schufen (s. Carmina burana). Diesen Kreisen gehörte der geniale Archipoeta (s. d.) an, ihnen entstammte der oratorienhafte "Ludus de Antichristo", die glänzendste Verherrlichung des hohenstaufischen Kaisertums (etwa 1155).

Aber alle diese, Geistliche, Spielleute und Vaganten, traten zurück, als gegen das Ende des 12. Jahrh. der Adel aufhörte bloß Publikum zu sein, und selbst, die Fürsten nicht ausgeschlossen, mit glänzendem Erfolge der Dichtkunst sich widmete. Auch darin waren die nordfranz. Trouvères, die südfranz. Troubadours (s. Französische Litteratur) mit gutem Beispiel vorangegangen. Das deutsche Rittertum stand unter den Staufern auf der Höhe seines Ansehens; dem Kriegsruhm verband sich, ebenso wie in den vorbildlichen franz. Romanen von König Artus (s. d.) und seiner Tafelrunde, elegante gesellschaftliche Bildung und Sitte, deren treueste Wächter, die Frauen, beherrschender Verehrung genossen; die deutsche Dichtung, die sich eine eigene, zwischen den Dialekten vermittelnde Sprache schuf, hat kaum je wieder eine so hohe formelle Vollendung erreicht wie in den Händen dieser Ritter. Freilich, ihr Horizont war eng; nur der ganz konventionelle, aus Frankreich importierte Minnesang (s. d.) und das in erträumten Märchenverhältnissen schwelgende, stilisierte Ritterepos der keltisch-franz. Artusromane galten dem vornehmen Adel als standesgemäß; höchstens verarmte fahrende Adlige, wie Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach, wagten sich an das Lehrgedicht, den polit. Spruch und schilderten das Leben ausnahmsweise auch einmal mit realistischem Humor, wie es war oder doch sein konnte. In unsern Augen bezeichnen diese Männer, die die Bande des Konventionellen brachen, den Höhepunkt der Periode: aber nie wäre ihre künstlerische Höhe möglich gewesen ohne die virtuose Durchbildung von Form und Geschmack, die damals selbst den adligen Durchschnittspoeten eigen und die doch in Deutschland stets so selten war.

Sie war nicht mit einem Schlage da. Die Anfänge ritterlicher Dichtung, die entzückenden volksliedartigen Gedichte des ältesten österr. Minnesangs (Kürenberg, Dietmar von Aist) und das prächtige, von gesundem Patriotismus zeugende, mitteldeutsche epische Gedicht vom Grafen Rudolf (um 1170) entbehren ihrer noch, entschädigen freilich durch frische Ursprünglichkeit. Auch der hildesheimische Ministeriale Eilhart von Oberge, der zuerst einen franz. Minneroman, das für den höfischen Minnedienst vorbildliche Thema von Tristan und Isolde, verdeutschte, schwankt noch unbeholfen zwischen volkstümlichem und höfischem Stil und ist formell mangelhaft. Als Vater der höfischen Dichtung galt schon seiner Zeit der Mastrichter Heinrich von Veldeke, auch er ein Norddeutscher, wie denn der franz. Einfluß am stärksten durch die Niederlande hereinflutete; aus seiner Lyrik übertrug er die Reinheit der Form und die höfische Minnereflexion in sein berühmtes Epos, die "Eneide" (um 1180). Schnell siegt die neue höfische franz. Richtung auf der ganzen Linie: der vornehme Pfälzer Friedrich von Hausen (gest. 1190), vor allem der Elsässer Reinmar der Alte, der in Wien wirkte, treiben die melancholisch zartfühlende, aller Sinnlichkeit bare Modepoesie des höfischen Minnesangs auf den Gipfel blendender, aber unwahrer Virtuosität, und der feinsinnige, aber leidenschaftslose Schwabe Hartmann von Aue übertrug im letzten Jahrzehnt des 12. Jahrh. Artusromane des humorvoll genialen Nordfranzosen Chrétien de Troyes und andere Vorlagen überaus elegant, aber farblos und mit Verwischung alles Charakteristischen in wunderbar glatte Verse, gewählte Worte und durchsichtige Sätze. Das war der Triumph beschränkt höfischer Kunst.

Der Rückschlag blieb nicht aus. Die bis zur Langenweile überfeinerte Reflexionsdichtung seines Lehrers Reinmar überholte der größte mittelhochdeutsche Lyriker, der Österreicher Walther von der Vogelweide, dem Anregungen des bei aller höfischen Formvollendung heißblütigen Thüringers Heinrich von Morungen zu gute kamen, durch Liebeslieder, in denen sich die geistige und formale Kunstvollendung des höfischen Sanges mit der Kraft, der Frische und dem Humor des Volksliedes paarte; vom wandernden Spielmann, wie der Bayer Spervogel einer war, entnahm er die bis dahin vom Adel verschmähte lehrhafte Spruchpoesie (s. Spruch) und schwang sich in seiner kaisertreuen und papstfeindlichen polit. Dichtung zum machtvollsten oratorischen Pathos auf. Der Bayer Wolfram von Eschenbach erhob in seinem "Parzival" eine schwache franz. Vorlage durch allerfreieste Erweiterung und Motivierung zu einem grandiosen psychol. Epos, das in seiner Verherrlichung der Ritter des heil. Grals dem konventionell faden und äußerlichen Artusrittertum geradezu den Krieg erklärt und tief sehnsüchtige, selbst ketzerische Mystik mit launiger, naiv rücksichtsloser Ursprünglichkeit der Darstellung vereinigt. Und durch das Verdienst