Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

24

Deutsche Litteratur

versammelte und dem alle tendenziösen Zeitinteressen glücklich fern lagen. Neben Geibel dichtete da Friedr. Bodenstedt (1819-92), der als "Mirza Schaffy" (1851) an Goethes "Diwan" und an echte orient. Muster zugleich lebenslustig und lehrhaft anknüpfte und an dem sinnvoll sinnlichen Daumer, dem beschaulichen Hammer Stilgenossen hatte; ferner der mecklenb. Graf Schack, der nachbildend und neubildend orient. und antiken Anregungen in hoher Formvollendung nachgab, der Dichter der "Völkerwanderung" (1866), Herm. Lingg, der Nachdichter Gottfrieds von Straßburg und anderer mittelhochdeutscher Epiker, Wilh. Hertz, der Philosoph M. Meyr, Verfasser guter Dorfgeschichten, der anmutige Kulturnovellist Riehl, der poet. Erzähler Jul. Grosse, endlich, nicht zuletzt, der erfolgreichste Novellist der Epoche, Paul Heyse (geb. 1830), ein Künstler von wohlthuend klarem Blick und durchsichtiger Form, der in seinen kleinen Liebesgeschichten ebenso die südl. Glut Italiens wie die innige Wärme Deutschlands darzustellen weiß und dem auch edle antikisierende Dramen, flüssige poet. Erzählungen, charakteristische patriotische Schauspiele gelingen, während ihm die leidige Tendenz die Romane verdirbt.

Im Roman, der mit dieser Epoche mehr als je in den Vordergrund tritt, offenbart sich eine jene romantischen Nachwirkungen ablösende immer wachsende Neigung zum Realismus. Er findet einen sehr erfreulichen Vertreter an Gust. Freytag (geb. 1816), dessen feine und reiche Begabung aber nicht durch seine modern realistischen Romane ("Soll und Haben", 1855, "Die verlorene Handschrift", 1865) erschöpft wird, dem wir eine Neubelebung des histor. Romans ("Die Ahnen", 1872 fg.) und vor allem das beste moderne Lustspiel ("Die Journalisten", 1854) verdanken. Mehr an Gutzkow als an ihn schließen sich Spielhagens oft sehr tendenziöse sociale Romane an; Hackländer, der mit humoristischen Soldatengeschichten begann, wie sie Wickede und Winterfeld vorwiegend pflegten, ging später zu Gesellschaftsromanen über, die er allzu flüchtig und schnell hinschrieb. Den kulturhistor. Roman vertritt Scheffel in seinem ausgezeichneten, poetisch wertvollen "Ekkehard" (1855), dem speciell preußischen Hesekiel und Hiltl, freilich keine ebenbürtigen Nachfolger von Alexis; humoristisch archaisiert Trautmann; realistische Darstellungen aus dem jüd. Leben bringen Kompert und Franzos; einen köstlichen Humor entfaltet der Mecklenburger Fritz Reuter in seinen plattdeutschen Romanen (besonders "Ut mine Stromtid", 1861). Das Glück des Kinder- und Familienlebens schildern der sentimentale Bog. Goltz und der gesund heitere Rud. Reichenau; fromme Volkserzählungen schreiben Horn und Frommet, fromme Romane die liebenswürdige Marie Nathusius, Kindergeschichten, die freilich etwas hausbacken geraten, Ottilie Wildermuth. Die Novelle hat neben Heyse an dem oft schwermütig düstern, aber ungemein feinfühligen und stimmungsvollen Erzähler Storm (1817-88) einen hervorragenden Vertreter. Alle aber überragt der Züricher Gottfried Keller, die kräftigste Dichtergestalt unserer modernen Litteratur, im "Grünen Heinrich" (1853) ein Meister des psychol. Romans, in seinen Novellen, zumal in den "Leuten von Seldwyla" (1856), auch dem "Sinngedicht" (1881), ein sinnlich packender, scharf schauender und charakterisierender Darsteller des umgebenden Lebens, dem doch die weichsten und süßesten Töne gelingen und der selbst die häßliche Wirklichkeit durch einen überlegenen, oft herzgewinnend übermütigen Humor verklärt. In unserer gesamten Novellistik kommen ihm immer noch am nächsten zwei kleine, früher wenig beachtete Arbeiten ("Die Heiterethei", "Zwischen Himmel und Erde") des Thüringers Otto Ludwig (1813-65), eines genialen, leider früh krankenden Mannes, dessen Lieblingsgebiet freilich das Drama war. Seine knorrigen, herben Schöpfungen, die an Hebbel erinnern ("Der Erbförster", "Die Makkabäer"), stehen im ernsten Drama allein; weder Freytags Sittenschauspiele, noch die preisgekrönten Versuche Lindners und Nissels, noch gar die routinierten Bühnenstücke Mosenthals und Brachvogels reichen entfernt an sie heran; Richard Wagners geniale Operndichtungen nehmen im dramat. Aufbau einen sehr hohen Rang ein, verraten aber in der Detailausführung zu sehr ihre Bestimmung. Im Lustspiel erzielen Putlitz, Wehl, Feldmann vorübergehende Erfolge; die Possen Kalischs und Räders sind ohne litterar. Ansprüche doch immerhin so lustig gewesen, daß sie zum Teil bis heute noch ihr Leben fristen. Von Lyrikern haben zwei ihrer Zeit wenig beachtete, der Schweizer Leuthold (1827-79), eine herbe und wüste, aber geniale und überraschend formstrenge Dichterkraft, und der melancholisch innige Tiroler Herm. von Gilm (1812-64), dem die geistige Enge in seinem geliebten Vaterlande die Flügel lähmte, neuerdings verspätetes Interesse gefunden. Der "Quickborn" (1852) des Holsteiners Klaus Groth spiegelt den spröden, aber echten treuen Charakter des Volksstammes wider, in dessen Mundart er gedichtet ist. Anregungen moderner Wissenschaft zeigt ernsthaft die pessimistische Lyrik Hier. Lorms, in lustiger Parodie die ausgelassen burschikosen Lieder, in denen Scheffel ("Gaudeamus", 1867) naturwissenschaftliche und philol. Fragen behandelt.

Die in den Tagen der Romantik aufgeblühte Wissenschaft hatte inzwischen ihr Antlitz nicht wenig verändert. Als die Alleinherrschaft der Hegelschen Philosophie, die noch in Vischers trefflicher "Ästhetik" (1848) eine späte Blüte trieb, gebrochen war, wirkte auf weite Kreise der Pessimismus des früher wenig beachteten Schopenhauer (1788-1860), eines glänzenden und klaren Schriftstellers, dessen nie versagende scharfe Deutlichkeit sehr wohlthuend abstach von Hegels schwerfälliger Kunstsprache. Die histor. und philol. Wissenschaften bauten auf den von der Romantik gelegten Grundlagen mit immer sichererer methodischer Technik, immer ausgedehnterem Wissen fort; auch die schriftstellerische Kunst hat sich mehr und mehr gehoben; Männer wie der große Historiker Leopold von Ranke, wie Mommsen, Sybel und Döllinger, vor allem der gestaltungskräftige Heinrich von Treitschke gehören auch der deutschen Litteraturgeschichte an. Über die weitere wissenschaftliche Litteratur vgl. die Artikel der einzelnen Wissenschaften, insbesondere Deutsche Mundarten, Deutsche Philologie, Deutsche Philosophie, Deutsche Sprache.

An der Gründung des Deutschen Reichs (1871) waren in erster Linie zwei Meister deutscher Prosa beteiligt: die Reden des Fürsten Bismarck atmen in jedem Satze ursprüngliche schöpferische Sprachgewalt, die Schriften des Grafen Moltke suchen in ruhiger und schöner Klarheit der Rede ihresgleichen. Man kann nicht sagen, daß sonst das neue