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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutsche Musik

dritte Periode, die noch unabgeschlossen bis in die Gegenwart reicht, hat ihren musikalischen Schwerpunkt nicht mehr an einem bestimmten Ort und vereinigt die verschiedenartigsten Bestrebungen: die Romantik Robert Schumanns, der sich hauptsächlich auf Schubert stützt, den Eklekticismus Felix Mendelssohn-Bartholdys, der namentlich an Bachsche Formen und Ideale anzuknüpfen suchte, die Reinigung und Erneuerung der verschollenen oder durch spätere Hand entstellten Werke der frühern Meister, namentlich Bachs und Händels; besonders aber wird sie charakterisiert durch die Neuerungen in der dramatisch-theatralischen Musik. Deshalb steht Karl Maria von Weber, der Komponist des «Freischütz», an der Spitze dieser Epoche; denn alles, was von ihm und später, außer vielen andern, besonders von Giacomo Meyerbeer und Richard Wagner zur Änderung und Bereicherung der Bühnenmusik ausging, hat bis zur Gegenwart eine ungleich größere allgemeine Teilnahme erweckt als die gleichzeitigen musikalischen Leistungen aus andern Gebieten. Der Grund hiervon liegt zunächst in der einseitig bevorzugten Stellung der Bühnenmusik, die an allen bedeutenden Orten in prachtvoll hergerichteten und mit verschwenderischem Aufwand unterhaltenen Theatern eine möglichst vollendete Darstellung findet, während die übrigen Zweige der Tonkunst fast ausschließlich auf die Pflege privater Vereinigungen angewiesen sind. Ein anderer Grund dieser besondern Teilnahme für die Oper liegt in dem Zustande des deutschen Theaters. Die großen deutschen Tonsetzer und Dichter hatten herrliche Werke geschaffen, aber nicht ein geschlossenes, vom Ausland unabhängiges Repertoire. Deshalb fand, nachdem schon Weber im Musikalischen gezeigt hatte, daß in der deutschen Sprache ein noch lebhafterer theatralischer Ausdruck möglich ist, als selbst Mozart ihn erreicht hatte, Richard Wagner eine so vielseitige und andauernde Teilnahme, als er es unternahm, das deutsche Theater von der Musik aus auf einen neuen Grund zu stellen. Hierbei kam ihm die Richtung der Zeit auf das Dekorative ebenso sehr zu statten, wie die Richtung der Gesangmusik auf recitativisch-lyrische Wortbetonung, die Richtung der Instrumentation auf Tonmalerei und die Vorliebe der Zeitgenossen für altdeutsche Sagenstoffe. Sein großes Geschick, einen Gegenstand im Mittelpunkt zu erfassen und mit allen erdenklichen Künsten theatralisch wirksam aufzubauen, unter Anwendung eines ziemlich einfachen Schema und mit dem Aufwand geringer specifisch musikalischer Kunstmittel, hat ihm einen weitreichenden Einfluß auf die Produktion der Gegenwart verschafft.

In der neuesten Zeit (nach Wagner) sind Erscheinungen, die der D. M. eine andere Richtung gaben oder geeignet sein könnten, eine solche einzuleiten, nicht hervorgetreten. Der ganze Zeitabschnitt stellt sich vielmehr dar als eine Fortsetzung dessen, was auf den verschiedenen Gebieten vorher in der Praxis tonangebend geworden war. Von der Kirchenmusik ist kaum mehr zu sagen, als daß sie da, wo sie größere Werke unternimmt, die kirchlichen Texte fast ausschließlich zu Konzertzwecken benutzt; deshalb wird auch mit Vorliebe das gewählt, was mannigfache Schilderung und breite Ausführung ermöglicht, wie Requiem und Messe. Unter vielen Werken haben nur die von Friedrich Kiel, Johannes Brahms und Franz Liszt allgemeinere Verbreitung erlangt. Diesen Kirchenstücken ähnlich sind die geistlichen oratorischen Werke; sie neigen durch ihre liturgischen Anklänge der Kirche, durch ihre scenisch-dramat. Haltung der Bühne zu. Einen «Christus» komponierte Kiel in lyrischer, Liszt in halb liturgischer, halb dramat. Haltung. Im ganzen sind jetzt die biblischen oder alttestamentlichen Gegenstände ziemlich aufgegeben, da unsere Tonsetzer sich zur Zeit mit Vorliebe an Stoffe weltlicher Geschichte oder Dichtung halten; so M. Bruch, Brahms, Krug u. a. besonders an Homer, Goethe und altdeutsche oder nordische Gedichte und Sagen. ^[Spaltenwechsel]

Diese Werke weisen noch mehr, als die vorhin genannten geistlichen, auf die große Oper als den Mittelpunkt hin, von dem schon seit geraumer Zeit unsere Musik ihre Anregung erhält, und zwar auf die Oper in der Form, wie sie zuletzt R. Wagner als musikalisches Drama gestaltet hat. Sein letztes Werk «Parsifal» (1882) ist zwar absichtlich bisher auf das Bayreuther Theater beschränkt geblieben, doch hat die lebhafte Propaganda für die Verbreitung seiner Werke dadurch um nichts nachgelassen. Zum Teil erklärt sich dies aus der Armut und Unselbständigkeit, die sich bei uns auf dem Gebiet der großen Oper geltend macht; verglichen mit sämtlichen neuern deutschen Produkten, stehen Wagners Opern als zielbewußte, einheitlich gestaltete Werke da.

Von den Opernkomponisten, die Wagner direkt nacheiferten (Goldmark, Lux, Kienzl u. a. in Deutschland, Joncières u. a. in Frankreich), hatten nur wenige vorübergehenden Erfolg. Dagegen erlangten Stücke, wie Neßlers «Trompeter von Säckingen», ihre Popularität durch geschickte Benutzung des modernen Liedergesanges. Eine besondere Stellung nimmt der in deutscher Schule gebildete Russe, Anton Rubinstein ein, dem es mit zehn Opern noch nicht gelungen ist, auf der Bühne Heimatsrecht zu erlangen. Die deutschen Komponisten komischer Opern pflegen sich Albert Lortzing zum Muster zu nehmen, sind aber mit ihren Nachahmungen bisher wenig glücklich gewesen. Eine Ausnahmestellung nehmen zwei Perlen der komischen Opernlitteratur ein: «Die lustigen Weiber» von Nicolai und «Der Widerspenstigen Zähmung» von Götz. Eine ebenso große als erfolgreiche Fruchtbarkeit ist im Fache der modernen, von Offenbach ausgehenden Operette zu konstatieren. Suppé und Strauß begründeten eine Wiener Operettenschule, der sich bald auch die Norddeutschen anschlossen, und wenn irgend etwas in den letzten Jahren als neu und bemerkenswert aufgezeichnet zu werden verdient, so ist es der Umfang und die außerordentliche Verbreitung, die dieser Zweig der musikalischen Produktion erlangt hat. Allerdings ist das Interesse an der Operette, deren Produktion zwar immer massenhafter, aber immer weniger originell geworden ist, schnell der Teilnahme an ernster dramat. Musik gewichen.

Die Instrumentalmusik kommt von der Nachahmung vokaler, namentlich opernhafter Formen, die eine Zeit lang gebräuchlich war, immer mehr zurück und wendet sich wieder bewährten Formen dieses Faches zu, wobei zum Teil an eine ferne Vergangenheit angeknüpft wird, wie in den Orchestersuiten von Lachner, Grimm u. a. Als Sinfoniker haben neuerdings Brahms, Rubinstein und Bruckner die meiste Aufmerksamkeit erregt. Unter diesen ist Brahms in der Gestaltung Beethoven am nächsten gekommen; auch seine Konzert-Ouverturen und -Variationen zeigen selbständigen In- ^[folgende Seite]