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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Deutsche Musik

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Deutsche Musik

Deutsche Musik. Bereits im frühen Mittelalter war Deutschland in der Musik würdig vertreten. An der ersten Geschichte der kirchlichen Tonkunst haben deutsche Klöster und Sängerschulen – St. Gallen voran – einen bedeutenden Anteil. Wie noch gegenwärtig, war Deutschland – nach dem Zeugnis zahlreicher Kirchenväter und anderer lat. Autoren – schwach im Gesang. Dafür stellte es aber auf den Gebieten der praktischen Komposition und der Theorie von Anfang an in Männern wie Notker Balbulus und Franco von Köln Kräfte ersten Ranges. Letzterer nimmt unter den Begründern der musikalischen Harmonie oder des mehrstimmigen Satzes im 12. Jahrh. eine angesehene Stellung ein. Hervorragend als kunstvoller Tonsetzer war im 15. Jahrh. der kaiserl. Kapellmeister Heinrich Isaac. Doch mußten bis zum Ende des 16. Jahrh. auch die Deutschen sich den Niederländern und Italienern unterordnen. Der größte Musiker der Niederländer, Orlandus Lassus, wirkte in Deutschland, das er von München aus beherrschte; die Schule der Niederländer faßte daher unter den Deutschen auch tiefer Wurzeln als die des Palestrina und anderer Italiener, und hat ihnen bei ihrem tiefen Sinne für harmonisch-kontrapunktische Künste diejenige Grundlage gegeben, auf der in der Folgezeit ihr musikalisches Leben sich entwickelte. Es lag bei aller Kunst etwas formell Unfreies oder Gebundenes in der Musik der Niederländer, wenn man sie mit der italienischen vergleicht; aber dieses Element entsprach den Bedürfnissen der Deutschen, die durch die Reformation auf lange Zeit an das Kirchlich-Religiöse gebunden waren. Während hierbei die übrigen Künste in Deutschland verkümmerten, hatte die Musik in dem neugewonnenen Gemeindegesang, dem Choral, eine Nährquelle von so reichem Gehalt, daß die Gebundenheit daran durch Kunstgebilde von unerschöpflicher Mannigfaltigkeit belohnt wurde. Ebenso verhielt es sich mit der Orgel, dem Mittelpunkt aller Musik in der prot. Kirche. Hieraus wird es auch erklärlich, warum das luth. Norddeutschland in der Musik zuerst zur Selbständigkeit gelangte. Eine ganze Reihe von Tonsetzern hat seit Luther dieses Gebiet mit emsigem Fleiße gepflegt und schöne Resultate erzielt; Johannes Eccard am Ende des 16., Heinrich Schütz in der Mitte des 17. Jahrh. sind die bemerkenswertesten, bis endlich Johann Sebastian Bach auf den meisten Gebieten alle seine Vorgänger überragte. Daß dieser Weg der Choral- und Orgelkunst bei aller scheinbaren Enge und Gebundenheit dennoch der rechte war zur höchsten künstlerischen Freiheit, zeigt auf andere Weise Georg Friedrich Händel, der die Formen der ital. Kunst mit deutschem Gehalt erfüllte.

Indes blieben, trotz der an die Orgel sich lehnenden Kirchen- und Instrumentalmusik Bachs und der nach Form und Gehalt vollendeten Gesänge Handels, doch noch immer zwei Formen in dem mehr oder weniger ausschließlichen Besitz der Italiener und Franzosen: die Bühnenmusik oder Oper und die freie vielgestaltige Instrumental- oder Orchestermusik. Hier war es nun der südliche kath. Teil Deutschlands, der auf diesen beiden Gebieten die Oberherrschaft erlangen sollte. Der Aufschwung ging von Wien aus, wo die bisher bevorzugten Italiener den Sinn für schöne Melodie erschlossen und die außerdeutschen Nationen der österr. Krone den reichsten Zufluß neuer Quellen der Instrumentalmusik lieferten. Die Oper war um 1600 in Italien entstanden und vor 1630 nach Deutschland gedrungen, wo sie namentlich um 1700 auf dem musikalischen Gebiete die Herrschaft erlangte und alle musikalischen Formen von Grund aus umbildete. Dennoch gelang es nicht, trotz eines Tonsetzers wie Reinhard Keiser, der hauptsächlich für Hamburg seine mehr als 100 Opern schrieb, in diesem Gebiete eine solche Bedeutung zu erlangen wie die gleichzeitige franz. Oper, die schon um 1680 der italienischen in völliger Selbständigkeit ebenbürtig zur Seite trat. Deutschland sank vielmehr seit 1720 in der Oper so gänzlich wieder zur Abhängigkeit von Italien herab, daß selbst die Norddeutschen nur noch italienisch komponierten, unter ihnen als die hervorragendsten Karl Heinrich Graun und Johann Adolf Hasse, ersterer der Hofkomponist, letzterer der Liebling Friedrichs d. Gr. und der angesehenste ital. Tonsetzer seiner Zeit. In der Instrumentalmusik schuf ebenfalls Italien alle Hauptformen, von der franz. Ouverture abgesehen, und Italiener wie Franzosen nahmen überall die ersten Plätze in deutschen Kapellen ein. Das Genie Joseph Haydns brachte hierin eine plötzliche Wandlung hervor und gab durch Werke von höchster Originalität auf dem Gebiet der Sonate, des Quartetts und der Sinfonie den Ton an. Gleichzeitig reformierte Christoph Willibald Gluck die Oper, und der Genius Wolfgang Amadeus Mozarts verklärte mit seinem Schönheitssinn beide Gebiete, die Oper wie die Instrumentalmusik, mit überwiegender Kraft der erstern, doch nach seinem innersten musikalischen Gestaltungstriebe der letztern sich zuneigend. Seine Opern sind in musikalischer Hinsicht das vollendetste Erzeugnis der Bühnenmusik, aber im Dramatischen wie auch rein Gesanglichen haben andere Komponisten zum Teil noch Vorzüglicheres geleistet, und hieraus erklärt sich die Entwicklung, welche die Oper seit Mozart genommen hat. Ludwig van Beethoven wurde der Vollender der Instrumentalmusik; in seinen tiefsinnigen, gemüt- und humorvollen Tondichtungen fast aller Gattungen erreichte die musikalische Kunst ihren kaum noch zu überschreitenden Höhepunkt. Die ideale Vervollkommnung jeglicher Kunst, die untrennbare Einheit des Inhalts und der Form und das innige Durchdringen beider erhoben Beethoven zum geistvollsten, über der Form souverän stehenden, größten Tondichter überhaupt. Franz Schubert steigerte das deutsche Lied, das mit der neuerwachten Dichtung seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. Gemeingut der deutschen Nation geworden war, zu höherm Ausdruck. Mit Schubert begann die Blütezeit des deutschen Liedes, die noch heute (Robert Franz u. a.) andauert. Alle diese Männer, in der einen Stadt Wien heimisch, folgten so schnell einander fast sämtlich als Zeitgenossen und sind von so vielen Tonsetzern zweiten Ranges mitstrebend umgeben, daß der Glanz dieser Epoche den der 50 Jahre ältern in S. Bach gipfelnden norddeutschen Schule noch überstrahlte, wenn sie dieselbe auch an Tiefe und Allgemeingültigkeit nicht völlig erreichte. Durch diese beiden Schulen zusammen, durch die Errungenschaften eines einzigen Jahrhunderts, haben die Deutschen alle übrigen Völker in allen Hauptgebieten der Tonkunst überflügelt, sodaß dieser nationale Siegeslauf von hundert Jahren kaum seinesgleichen auf einem andern Kunstgebiet findet.

Seit dieser Zeit trägt die gesamte Kunstmusik der gebildeten Völker den deutschen Stempel. Die