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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Epilepsie

auch unabhängig von Krampfanfällen, von letztern durch längere Pausen gesunden Verhaltens getrennt ("psychisch-epileptische Äquivalente", d. h. Anfälle von Geistesstörung, welche gleichsam Krampfanfälle ersetzen). Diese transitorischen epileptischen Seelenstörungen, welche in gerichtlicher Hinsicht von hohem Interesse sind, können verschiedene Formen darbieten; man unterscheidet die sog. Dämmerzustände (eigenartige Umnebelungen des Selbstbewußtseins mit sonderbaren Ideen u. s. w.), den Stupor (Gehemmtsein aller geistigen Thätigkeit bis auf einzelne Wahnideen und Sinnestäuschungen mit äußerlich passivem Verhalten), heftige Aufregungszustände auf Grund schrecklicher Hallucinationen, eventuell aller Sinne, triebartige Handlungen ohne jedes bewußte Motiv oder auf Grund unwiderstehlich treibender Gedanken (die Monomanie instinctive Esquirols). Während dieser anomalen Geisteszustände werden häufig Gewaltthaten der gräßlichsten Art (Selbstmord, Mord, Brandstiftung, auch Diebstähle u. s. w.) begangen, welche dem Kranken nicht zugerechnet werden können. Gewöhnlich (und dies ist bis zu einem gewissen Grad charakteristisch für die transitorische epileptische Geistesstörung) ist das Bewußtsein (die Erinnerung) für alle Erlebnisse während des anomalen geistigen Zustandes aufgehoben, doch kann auch summarische Erinnerung oder Erinnerung an Einzelheiten vorhanden sein. Die wichtigsten von den chronischen geistigen Anomalien der Epileptiker sind Zustände von Schwachsinn, welche sich besonders im Anschluß an "epileptischen Schwindel" entwickeln, in größerer Intensität sich aber meist nur bei angeborener oder in früher Jugend erworbener E. finden. Bei vielen Epileptischen tritt auch eine anomale Gemütsreizbarkeit hervor, sodaß sie auf geringfügige Anlässe in heftige Wut verfallen, was derartige Kranke sehr gemeingefährlich macht. Ungerechtfertigt ist es aber, alle Epileptiker als geistig anomal oder gar unzurechnungsfähig zu betrachten, da zahlreiche geistig besonders hervorragende Personen (Cäsar, Mohammed, Rousseau, Napoleon I.) epileptisch waren.

Das eigentliche Wesen der E. ist noch völlig unbekannt. Ihr Sitz ist jedenfalls im Gehirn, entweder, wie man früher auf Versuche von Kussmaul und Tenner hin annahm, in der Gegend des verlängerten Markes oder, wie man gegenwärtig aus Hitzigs Versuchen und andern Beobachtungen (Jackzon) schließt, in der Rinde des Großhirns (Rindenepilepsie). Jeder dieser Teile kann bei Fallsüchtigen entweder unmittelbar erkrankt sein oder durch abnorme Erregungszustände mancher Empfindungsnerven in abnormer Weise erregt werden; so hat man wiederholt durch den Reiz von Eingeweidewürmern oder durch Reizungszustände der Gebärmutter, E. entstehen sehen (sog. Reflexepilepsie). Versuche an Tieren haben es sehr wahrscheinlich gemacht, daß zahlreiche Fälle von E. auf plötzlich eintretender Blutleere (Anämie) des Gehirns beruhen, welche ihrerseits wieder durch eine plötzliche krampfartige Verengerung der das Blut zum Gehirn führenden Arterien eintreten kann. Die entferntern Ursachen der Krankheit sind mannigfaltig; nicht selten lassen sie sich heben, viele aber bieten aller ärztlichen Kunst Trotz. Bisweilen konnte durch Ausschneiden einer Narbe, durch welche gewisse Nervenenden gezerrt und gereizt und weiterhin das Gehirn in Mitleidenschaft versetzt worden war, vollständige Heilung herbeigeführt werden.

Die Krankheit ist überall einheimisch und verschont kein Alter und kein Geschlecht; doch fallen die meisten Fälle auf das Alter vom 10. bis zum 20., nächstdem auf das Alter vom 2. bis 10. und vom 20. bis 30. Lebensjahre; im eigentlichen Greisenalter entsteht selten E.; Frauen werden etwas häufiger von ihr befallen als Männer. Die Anlage zur E. kann angeboren, erblich oder in der Konstitution begründet und erworben sein durch unzweckmäßige körperliche und geistige Erziehung, Trunksucht, Geschlechtsausschweifungen, namentlich Onanie. Besonders die Erblichkeit spielt unter den disponierenden Ursachen der E. eine wichtige Rolle, und zwar kann jede Nervenkrankheit der Eltern in den Kindern den Keim zur Entwicklung der E. legen; deswegen soll man in Familien, in denen die E. oder andere Nervenleiden erblich sind, die Verheiratung der Mitglieder untereinander zu verhüten suchen, sowie die Kinder einer epileptischen Mutter nicht von dieser, sondern von einer gesunden Amme ernähren lassen. Bei angeborener Anlage tritt die E. gewöhnlich in den Entwicklungsjahren, beim Zahnen und beim Eintritt der Pubertät, auf, nach welcher letztern ein Ausbruch einer ererbten E. kaum noch stattfindet. Ebenso verschieden sind die Anlässe, welche den Ausdruck der E. herbeiführen; besonders wirken Gemütsaffekte (Schreck, Furcht, heftige Sinneseindrücke) in dieser Hinsicht. Von der Häufigkeit des Übels kann man sich einen Begriff machen, wenn man bedenkt, daß in Deutschland allein wenigstens 10 000 Menschen an demselben leiden.

Heilungen der E. kommen unzweifelhaft vor; doch sind die Bedingungen ihres Zustandekommens noch vollkommen dunkel, weshalb auch über die Behandlung nur wenig Zuverlässiges zu berichten ist. Am besten wäre es, die habituell Epileptischen in Versorgungsanstalten unterzubringen, da, wenn sie frei umhergehen, sie leicht sich selbst und andere beschädigen; epileptische Kinder dürfen nicht durch den Schulunterricht übermäßig angestrengt werden, sondern sollen womöglich auf dem Lande leben, den größten Teil des Tags im Freien zubringen und unter genügender Aufsicht fleißig kalt gebadet werden; die Zeit der Pubertät erheischt besonders sorgfältige Überwachung. Die im Volke und bei den Ärzten berühmten Arzneimittel versagen oft den Dienst (z. B. Baldrian, Beifuß, Zinkblumen, Hanf) oder führen auch wohl Vergiftungen herbei (z. B. Silbersalpeter, Atropin, Kupfersalmiak), ohne doch zu heilen. Einen großen Ruf gegen E. hat das Bromkalium erlangt, welches die Reizbarkeit der sensiblen Nerven abstumpft und dadurch der reflektorischen Erregung der Anfälle entgegenwirkt; auch tägliche Waschungen des ganzen Körpers vermögen die abnorm erhöhte Reflexerregbarkeit herabzusetzen und so eine Verminderung und Abschwächung der Anfälle herbeizuführen. Während des Anfalls selbst ist nur darauf zu sehen, daß sich der Kranke nicht beschädigt, weshalb Epileptiker niemals, auch bei Nacht nicht, ohne Aufsicht und allein gelassen werden sollen; das Aufbrechen der Daumen aus der geballten Faust hilft nichts und ist nur schädlich. Ebenso sind das Binden der Glieder, gewaltsames Festhalten, Riechmittel u. s. w. ohne allen Nutzen, im Gegenteil fühlen sich die Kranken hinterdrein wesentlich erleichtert, wenn man sie während des Anfalls möglichst ungestört sich austoben ließ. Nach dem Anfall reiche man ihnen höchstens ein Glas Wasser oder schwarzen Kaffee und lasse sie dann