Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

324

Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften

schaftlichen Geschäftsbetriebes bezwecken. Häufig nennt man sie auch Genossenschaften schlechtweg, obzwar diese Bezeichnung richtig verstanden auch noch eine Reihe anderer Verbände und Vereinigungen umfaßt (s. Genossenschaft). Im Unterschiede von vielen solchen andern genossenschaftlichen Gemeinschaften ist der Charakterzug der modernen genossenschaftlichen Bewegung die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft unter Ausschluß von Vor- oder Zwangsrechten nach Art der Befugnisse der alten Zünfte oder ähnlicher Verbände; ihre social- und wirtschaftspolit. Bedeutung hingegen beruht namentlich darauf, daß die schwächern Elemente der heutigen Gesellschaft durch den wechselseitigen Anschluß an Kraft und Halt gewinnen und an die gemeinsame Lösung von Aufgaben schreiten können, deren Bewältigung ihnen bei der Beschränktheit ihrer Mittel im Zustande der Vereinzelung nicht möglich wäre. In diesem Sinne stellen sich die E. u. W. als ein wichtiges Mittel dar, um den Arbeiterstand zu heben und die Stände der kleinern Landwirte und Gewerbtreibenden konkurrenzfähig zu erhalten gegenüber dem neuzeitlichen Großbetrieb oder sonstigen Bedrängnissen. Zu verkennen ist freilich nicht, daß das Genossenschaftswesen, namentlich in Form der Konsumvereine, in wachsendem Maße auch den Angehörigen wohlhabenderer Kreise dient und den Mittelstand durch Untergrabung des Detailhandelsstandes von einer andern Seite her schädigt.

Die moderne Genossenschaftsbewegung nahm ihren Ausgangspunkt in England, woselbst schon im Anfang unsers Jahrhunderts Vereine zur gemeinsamen Beschaffung von Lebensmitteln entstanden. Eine besondere Förderung fanden derartige Bestrebungen durch das Auftreten von R. Owen (s. d.), der die genossenschaftliche Bewegung mit der socialistischen Propaganda verband, indem die neuen Genossenschaften gewissermaßen als Vorstufen und Vorschulen für die Umgestaltung der Gesellschaft angesehen wurden. Epochemachend war sodann die Gründung des Konsumvereins der Pioniere von Rochdale (s. d.), welcher zuerst den Grundsatz einführte, den erzielten Reingewinn nicht nach Geschäftsanteilen, sondern nach Maßgabe der Einkäufe an die einzelnen Mitglieder zu verteilen, und damit nicht nur einen gerechtern Maßstab für diese Verteilung schuf, sondern auch das Interesse der Mitglieder an der Benutzung und Erhaltung der genossenschaftlichen Institution wesentlich erhöhte. In Frankreich entwickelte zuerst Buchez (s. d.) den Plan einer Produktivgenossenschaft, durch welche die Arbeiter in den Stand gesetzt werden sollten, selbst Unternehmer zu werden. Der Associationsgedanke wurde übrigens in Frankreich von mehrern socialistischen Schulen, insbesondere auch von der Louis Blancs (s. d.), gepflegt, und zum Teil diesem Einfluß ist es zuzuschreiben, daß zur Zeit der Februarrepublik (1848) der Staat zur Unterstützung von Genossenschaften zwischen Arbeitern oder zwischen Arbeitern und Unternehmern einen Kredit von 3 Mill. Frs. bestimmte. Durch den Staatsstreich wurden übrigens den meisten Genossenschaften ihre Führer entzogen und damit die Entwicklung des Genossenschaftswesens zunächst unterbunden, welches erst später wieder zu neuem Aufschwung kam.

Später als in England und Frankreich tritt in Deutschland die Genossenschaftsbewegung auf; doch betrifft sie nicht wie dort in erster Linie den Arbeiterstand, sondern die Handwerker. Maßgebend wurde hier die Wirksamkeit von Schulze-Delitzsch (s. d.), welche mit der Gründung eines Rohstoffvereins für Tischler in Delitzsch 1849 begann. Epochemachend war auch die 1850 im gleichen Orte erfolgte Errichtung eines Vorschußvereins. Zuerst bei den Rohstoffvereinen und dann auch bei den Vorschußvereinen wurde das Princip der unbeschränkten solidarischen Haftbarkeit der Mitglieder angewendet und die Genossenschaften als streng geschäftliche Unternehmungen unter Verzichtleistung auf anderweitige Beihilfe durchgeführt, beides zum großen Vorteile für die Einrichtung. In der Folge vervielfältigten sich die Zwecke der Genossenschaften, insbesondere kam es zur Gründung zahlreicher Konsumvereine; auch traten der Arbeiterstand und die Landwirtschaft in die Genossenschaftsbewegung ein. Um eine engere Verbindung unter sich herzustellen, fand 1859 zu Weimar eine Versammlung der deutschen Vorschußvereine statt, woselbst die Errichtung eines Centralbureaus beschlossen wurde, dessen Leitung Schulze übernahm. 1864 ging daraus der Allgemeine Verband deutscher Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften hervor. Schulze selbst wirkte bis zu seinem Tode (1883) als Generalanwalt der Genossenschaften und veröffentlichte in dieser Eigenschaft jährlich Berichte über den Stand des Genossenschaftswesens, welche auch jetzt durch seinen Nachfolger, Reichstagsabgeordneten F. Schenck, noch fortgesetzt werden. 1883 kam eine dem Allgemeinen Verbande angepaßte Vereinigung der landwirtschaftlichen Genossenschaften zu stande. Ähnliche Verbände von Genossenschaften finden sich übrigens auch in andern Ländern. Die größte Verbreitung und Ausdehnung haben die Kreditvereine gefunden, und zwar sowohl die von Schulze-Delitzsch begründeten Vorschuß- und Kreditvereine (s. d.) wie die Raiffeisenschen Spar- und Darlehnskassen (s. Darlehnskassenvereine). Über die Statistik der E. u. W. s. Deutschland und Deutsches Reich (Handel, Bd. 5, S. 140).

Eine eigene Genossenschaftsgesetzgebung, dazu bestimmt, den Genossenschaften eine ihrem Wesen entsprechende Rechtsgrundlage zu verleihen, beginnt in Deutschland mit dem preuß. Gesetz vom 27. März 1867; abgesehen von den Gesetzen in andern deutschen Staaten ist dann noch das später auf das ganze Reich ausgedehnte norddeutsche Bundesgesetz vom 4. Juli 1868 zu nennen. Zur Abhilfe der mannigfachen Mängel dieses Gesetzes und zur Durchführung einer bestimmten Einheitlichkeit in dem deutschen Genossenschaftswesen ging dem Reichstage im Herbst 1887 der Entwurf eines neuen Genossenschaftsgesetzes zu, welches dann 1. Mai 1889 erlassen wurde und 1. Okt. 1889 in Kraft trat. Als Hauptarten der Genossenschaften zählt das Gesetz auf: 1) Vorschuß- und Kreditvereine (s. d.); 2) Rohstoffvereine (s. d.); 3) Vereine zum gemeinschaftlichen Verkauf landwirtschaftlicher oder gewerblicher Erzeugnisse (Absatzgenossenschaften, Magazingenossenschaften, s. d.); 4) Vereine zur Herstellung von Gegenständen und zum Verkauf derselben auf gemeinschaftliche Rechnung (Produktivgenossenschaften, s. d.); 5) Vereine zum gemeinschaftlichen Einkauf von Lebens- oder Wirtschaftsbedürfnissen im großen und Absatz im kleinen (Konsumvereine, s. d.); 6) Vereine zur Beschaffung von Gegenständen des landwirtschaftlichen oder gewerblichen Betriebes und zur