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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Frankreich (Geschichte 1879-87)

Als dann noch im Juni Englands Absicht auf ein bewaffnetes Einschreiten immer deutlicher wurde, Freycinet aber nur zu einer gemeinsamen Besetzung des Sueskanals, nicht aber zu Operationen gegen Arabi bereit war, befriedigte er damit niemanden in F., und der von ihm für jene Teilmaßregel verlangte Kredit von 10 Mill. Frs. wurde in der Kammer mit 450 gegen 75 Stimmen abgelehnt. Darauf reichte das Kabinett Freycinet sein Entlassungsgesuch ein, und Senator Duclerc bildete 7. Aug. ein neues Ministerium, worin er das Präsidium und das Auswärtige, Fallières das Innere, Tirard die Finanzen übernahm.

Dieses Ministerium, das keine einzige Persönlichkeit von hervorragender Bedeutung, aber vier ausgesprochene Anhänger Gambettas in sich schloß, wurde nur als ein "Verlegenheitsministerium" bezeichnet. Natürlich hatte die franz. Politik der Enthaltsamkeit nur dahin geführt, daß England nun die Lösung der ägypt. Krisis allein in die Hand nahm und nach dem raschen Siege bei Tel el-Kebir sich zum alleinigen Herrn Ägyptens machte. Lord Granville erklärte, daß England künftig die Finanzkontrolle in Ägypten allein zu führen gedenke und machte F. nur das Zugeständnis des Vorsitzes in der Staatsschuldenkommission. Duclerc nahm dies nicht an und bestand auf dem vertragsmäßigen Recht F.s auf Fortdauer der gemeinsamen Kontrolle. Aber Englands Entschluß war unwiderruflich, und zu spät erkannte F., daß es durch seine Nichtteilnahme an der ägypt. Expedition sich selbst eine Niederlage bereitet habe. Einen Ersatz hierfür suchte F. durch Expeditionen nach fernen Weltteilen sich zu verschaffen. Es beanspruchte das Protektorat über einen Teil der Insel Madagaskar, wobei es England und die Vereinigten Staaten von Amerika zu Gegnern hatte; es rüstete sich zu einer Expedition nach Tongking, obgleich es dadurch in einen Konflikt mit China kommen mußte; es wollte, auf den von dem franz. Afrikareisenden de Brazza mit einigen Häuptlingen abgeschlossenen Vertrag sich stützend, am Kongo weite Gebiete in Besitz nehmen und beeinträchtigte dadurch die Hoheitsrechte Portugals.

Da starb Gambetta 31. Dez. 1882, und mit ihm schwand dem Ministerium Duclerc der Boden unter den Füßen. Welche außerordentliche Bedeutung Gambetta in F. gehabt hatte, zeigte sich alsbald darin, daß mit seinem Tode die Feinde der Republik ihre Zeit gekommen glaubten. Schon im Sept. 1882 hatten anarchistische Unruhen in Monceau und Lyon stattgefunden, und beim Leichenbegängnis Louis Blancs, der 6. Dez. gestorben war, war es auch in Paris zu ähnlichen Demonstrationen gekommen. Zwei Wochen nach dem Tode Gambettas brachte der Prinz Jérôme Napoleon, der, nachdem Prinz Louis Napoleon 1. Juni 1879 in Afrika gefallen war, der Träger der napoleonischen Ansprüche war, durch Plakate, die er in der Nacht zum 16. Jan. 1883 an den Mauerecken von Paris anschlagen ließ, den Bonapartismus als den einzigen Retter des Staates und der Gesellschaft in Erinnerung. Da die Regierung in diesem Plakat eine Aufforderung zum Umsturz der Verfassung erblickte, ließ sie den Prinzen 16. Jan. verhaften, doch wurde er infolge eines Ausspruchs der Anklagekammer 9. Febr. freigelassen. Gleichzeitig mit dieser bonapartistischen Kundgebung fanden im südlichen F. legitimistische Bankette statt, und die Orleanisten wiesen auf den Herzog von Aumale als den künftigen Präsidenten der Republik hin, der dem Grafen von Paris die Bahn zum Throne ebnen sollte. Die Republik schien bedroht, schien die Beute desjenigen zu sein, der rasch zugriff. Diese Prätendentenfurcht verursachte in der Kammer einen Antrag Floquets, der sämtliche Prinzen früher in F. regierender Dynastien ohne Unterschied aus F., Algerien und den Kolonien verbannen wollte. Da eine Kabinettskrisis darüber auszubrechen drohte, so setzte die Kommission an Stelle des Floquetschen Antrags den Antrag Favre, der nur verlangte, daß die Ausweisung der als staatsgefährlich angesehenen Prätendenten dem freien Ermessen der Regierung anheimgestellt werden, alle andern Mitglieder der Familien aber, die früher in F. regiert hatten, weder Wahlrechte ausüben noch eine Stellung im Civil- und Militärdienst bekleiden sollten.

Da in dieser Frage keine Einigkeit im Ministerrat herrschte, so erfolgte 28. Jan. 1883 der Rücktritt des Ministeriums Duclerc, worauf der Gambettist Fallières ein neues provisorisches Kabinett bildete, worin später General Thibaudin, der in der deutschen Kriegsgefangenschaft von 1870 sein Ehrenwort gebrochen hatte, das Kriegsministerium übernahm. Aber auch dieses Ministerium war der kritischen Lage nicht gewachsen, und die Prätendentenfrage brachte es schon 18. Febr. zu Fall. Ein Ministerium trat 19. Febr. an seine Stelle, das größtenteils aus Gambettisten bestand und worin Ferry das Präsidium und den Unterricht, Challemel-Lacour das Auswärtige, Waldeck-Rousseau das Innere, Raynal die öffentlichen Arbeiten übernahm, während Thibaudin das Kriegsministerium behielt. Darauf wurden 24. Febr. Dekrete des Präsidenten Grévy veröffentlicht, die, auf Grund der Gesetze vom 19. Mai 1834, vom 4. Aug. 1839, vom 13. März 1875, den Divisionsgeneral Herzog von Aumale, den Oberst Herzog von Chartres und den Artilleriehauptmann Herzog von Alençon in Disponibilität versetzten, weil die Grundsätze der militär. Unterordnung und einheitlichen Disciplin geschwächt erscheinen könnten durch das Verbleiben dieser Offiziere an der Spitze der Armee, denen bereits durch ihre Geburt eine Ausnahmestellung eingeräumt sei. Die von der äußersten Linken beantragte Verfassungsrevision auf die Tagesordnung zu stellen, lehnte Ferry ab und setzte es durch, daß die Kammer 6. März 1883 den Antrag, die Revisionsanträge in Erwägung zu ziehen, nicht annahm und dem Ministerium ein Vertrauensvotum beschloß. Da der fortwährende Ministerwechsel die Autorität der Republik in Frage stellen mußte, so einten sich jetzt die Fraktionen der Republikaner im Vertrauen auf Ferry, der nun über 2 Jahre lang das Staatssteuer in Händen zu halten vermochte. Dies ermöglichte die Durchführung einer Anzahl neuer Gesetze. Zunächst wurde eine Justizreform in Angriff genommen. In den ersten Junitagen 1883 nahm die Kammer einen Entwurf an, der zwar nicht geradezu die Aufhebung der Unabsetzbarkeit der Richter enthielt, wohl aber einen Artikel (XII), wonach der Justizminister die Befugnis haben sollte, 3 Monate nach der Bekanntmachung des Gesetzes zur Reorganisierung sämtlicher Gerichte zu schreiten, d. h. innerhalb dieser Zeit in seinem Departement frei zu schalten, Richter abzusetzen und zu ernennen. Der Minister hatte damit Gelegenheit, den Richterstand von so manchen antirepublikanischen Elemen-^[folgende Seite]