Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

119

Frankreich (Geschichte 1879-87)

ten zu säubern. Am 25. Juli genehmigte der Senat das Gesetz mit geringen Modifikationen, denen die Kammer am 31. zustimmte. In demselben demokratischen Zuge bewegten sich auch die andern Reformen im Innern: die Abschaffung des religiösen Eides bei Gericht und die Wiedereinführung der Ehescheidung. Ferner die längst verlangte Verfassungsänderung, die Ferry 1884 nicht mehr umgehen konnte. Er unternahm sie vornehmlich im Sinne einer Reorganisation des Senats, indem er 24. Mai eine Vorlage einbrachte, die ein Vierfaches bezweckte: einmal, daß keine Revision sich auf die Abschaffung der Republik ausdehnen dürfe, zweitens die Abänderung des Senatswahlgesetzes, drittens die Beseitigung der lebenslänglichen Senatoren, und endlich die Beschränkung des Budgetrechts des Senats. Der letzte Punkt war beim Senat nicht durchzusetzen, und man ließ ihn fallen. Dagegen ward erreicht, daß an die Stelle der 75 lebenslänglichen Senatoren solche traten, die nur auf 9 Jahre ernannt wurden, und zwar von beiden Kammern, während die übrigen von erweiterten Wahlkörpern, in die fortan die franz. Gemeinden je nach ihrer Größe einen oder mehrere (Paris 30) Wahlmänner senden, gewählt wurden (9. Dez. 1884). Einige Monate vorher, 4. Aug. 1884, hatte der nach Versailles berufene Kongreß als Staatsgrundgesetz erklärt, daß kein Mitglied der ehemaligen Regentenhäuser jemals zum Präsidenten der Republik gewählt werden dürfe, und daß die endgültige Regierungsform F.s die republikanische sei. Während der Festigungsprozeß der Republik in dieser Weise fortschritt, verloren die Legitimisten in dem Grafen Chambord (Henri V.) ihren Thronprätendenten (24. Aug. 1883). Nun wurde der Graf von Paris von Legitimisten und Orleanisten als legitimer Thronkandidat angesehen. Derselbe hielt sich aber zunächst von polit. Kundgebungen fern. Ebensowenig trat Prinz Napoleon, das Haupt der Bonapartisten, hervor, weil sich der konservativ-klerikale Teil seiner Anhänger von ihm ab und im Mai 1884 seinem Sohne Victor zuwandte.

Mit der Konsolidierung der Republik Hand in Hand ging der Fortschritt in Fragen der Kirche und Schule, woraus schon im April 1883 ein Zerwürfnis mit den ultramontanen Bischöfen zu entstehen drohte, die einige an Staatsschulen benutzte Lehrbücher in ihren Hirtenbriefen verboten. Die Regierung erklärte dies als Anmaßung und betonte ihr Recht, widerstrebenden Priestern den Gehalt zu verweigern. Sie entwarf ein Gesetz über die Bestrafung von Geistlichen, die dem Konkordat zuwiderhandelten, entfernte die Priester aus den Spitälern und brachte Febr. und März 1884 in der Kammer das Gesetz zur Annahme, daß Ordensleute (Kongregationisten) an öffentlichen Schulen nicht mehr unterrichten dürften. Diese Maßnahmen führten zu einer Beschwerde des Papstes, auf die Grévy versöhnlich erwiderte, wodurch ein offener Konflikt vermieden wurde.

Weit mehr Schwierigkeiten verursachte dem Ministerium Ferry die finanzielle Lage des Staates. Die Einnahmen waren seit 1874 um 4 Milliarden hinter den Ausgaben zurückgeblieben, die Steuereingänge nahmen von Monat zu Monat ab, die gesamte Wirtschaft des Landes war im Rückgänge, die Ausfuhr heimischer Fabrikate wurde geringer, und die Einfuhr fremder stieg stetig, sodaß in den ersten 6 Monaten 1883 der Export gegen den Import um 729 Mill. Frs. zurückblieb. Anarchistenprozesse (des Fürsten Krapotkin, der Louise Michel) zeugten für die wirtschaftlichen Mißstände laut genug. Das Deficit war bisher durch Anleihen, Schatzscheine, Vorschüsse der Bank u. dgl. mühsam gedeckt worden. Diese Mittel reichten fürder nicht mehr aus, und Ferry mußte an entscheidendere Maßregeln denken. Es ergaben sich zunächst zwei: 1) die Umwandlung der 5prozentigen Rente in eine 4½prozentige, wodurch man jährlich 35 Mill. ersparte, und wozu die beiden Kammern im April 1883 ihre Zustimmung gaben, und 2) der Verzicht auf die Verstaatlichung der Eisenbahnen, indem man den Ausbau der Linien, der bisher das außerordentliche Budget mit einigen Hundert Millionen jährlich belastet hatte, den Privatgesellschaften vertragsmäßig überließ. Die Kammer genehmigte das Gesetz 2. Aug. 1883, und die franz. Finanzen waren wieder, wenigstens annähernd, ins Gleichgewicht gebracht, ohne jedoch einer Anleihe vollständig entraten zu können. Gleichzeitig dachte aber Ferry eine weitausgedehnte Kolonialpolitik durchzuführen, um den Export zu beleben. Man sprach von einem Sahara-Meer, von einer Eisenbahn an den Niger, von Massenkolonisationen. Dazu allerdings waren die Staatsmittel zu knapp. Aber diese Expansionspolitik führte F. doch bis nach Madagaskar und Tongking, wo es Protektorate anstrebte. Der Erfolg der Expedition nach Madagaskar (s. d.) war gering. In dem Friedensschluß, der Dez. 1885 unter ital. Vermittelung zu stande kam, mußte F. auf die Erwerbung Nordmadagaskars verzichten und behielt sich nur die Besetzung der an der Nordostspitze gelegenen Bucht Diego Suarez vor. Die Königin mußte 10 Mill. Frs. Kriegsentschädigung leisten, bis zu deren Bezahlung F. den Hafen von Tamatave behielt.

Mehr Erfolg wies die Expedition nach Tongking (s. d.) auf. In Ostasien hatte F. seit der Erwerbung von Saigon durch Napoleon III. (1862) bestimmte Interessen zu wahren. Häufige Reibungen blieben nicht aus, und als sich der Gouverneur von Cochinchina gegen die Überfälle von Seeräubern selbständig Genugthuung zu verschaffen suchte, kam es 1882 zu ernsten Feindseligkeiten zunächst mit Annam (s. d.), mit dem jedoch bald zu Huë ein Vertrag zu stande kam, der es in ähnliche Abhängigkeit von F. brachte wie Tunis: die auswärtige Politik und die Zolleinnahmen gingen auf die franz. Regierung über, dem Kaiser der Annamiten blieb nur die innere Verwaltung und seine Civilliste (25. Aug. 1883). Nun ging es gegen den Piratenstaat der "Schwarzflaggen", aber mit so empfindlichen Opfern und so wenig Erfolg, daß Ferry Unterhandlungen mit China anknüpfte, damit dieses seine Hilfstruppen, mit denen es die Schwarzflaggen unterstützte, zurückrufe. Die Verhandlungen verliefen erfolglos, es kam zu einem förmlichen Kriege mit China, und erst als der franz. Konteradmiral Courbet 16. Dez. 1883 die Außenwerke der Stadt Son-tai erstürmte und die Stadt besetzte, 12. März 1884 Bac-Ninh und 12. April Hung-hoa eroberte, brachten diese Erfolge zu Wege, daß sich China zu einem Abkommen bequemte. Am 11. Mai 1884 wurde in Tien-tsin ein Präliminarvertrag abgeschlossen, worin die Regierung zu Peking alle Rechte aus Annam und Tongking aufgab. Bald darauf, 6. Juni 1884, kam auch ein neuer Vertrag mit Annam zu stande, der die auswärtige Politik dieses Reichs vollständig unter den Willen des franz. Residenten stellte. Trotz dieser Verträge stellte sich aber doch noch lange