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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Frankreich (Geschichte 1879-87)

nicht der Friede ein. Der Überfall einer franz. Kolonne durch die Chinesen 23. und 24. Juni 1884 bei Langson brachte den Krieg von neuem zum Ausbruch. Da derselbe in F. sehr unbeliebt war, so scheute sich die Regierung, immer neue Kredite zur Ausrüstung von Verstärkungsmannschaften den Kammern abzuverlangen, und trat deshalb von Anfang an mit ungenügenden Streitkräften auf dem Kriegsschauplatze auf. Die Niederlage des Generals Negrier bei Langson 24. März 1885 machte in F. den tiefsten Eindruck und brachte Veränderungen in der innern und auswärtigen Politik mit sich, die sich zunächst im Sturze des Ministeriums Ferry ausdrückten.

Die Kolonialpolitik hatte ihre hauptsächlichsten Gegner im Lande an denjenigen, die die erste Aufgabe F.s in dem Revanchekrieg gegen Deutschland sahen. Sie erklärten die Entsendung von namhaften Streitkräften für eine Schädigung dieses Zwecks und waren mächtig genug, um z. B. den König Alfons XII. von Spanien, als er im Sept. 1883 nach Paris kam, durch den Pöbel insultieren zu lassen, weil er in Straßburg die Uniform des ihm verliehenen deutschen Ulanenregiments getragen hatte. Besonders erbitterte es die chauvinistischen Gegner Ferrys, daß er in der Kongofrage die Einladung Bismarcks zu einer Konferenz angenommen hatte (s. Kongostaat), und als nun im März 1885 jene Unfälle in Asien bekannt wurden und Ferry daraufhin größere Kredite (200 Mill.) beanspruchte, da brach der Sturm gegen ihn los: die Opposition unter der leidenschaftlichen Führung Clémenceaus warf ihm Verfassungsbruch vor, weil er ohne die Genehmigung der Deputierten Krieg mit China führe, und sogar Landesverrat, da er die Gefahr der Lage verschwiegen habe. Am 30. März 1885 wurde der Kredit mit 308 gegen 161 stimmen verweigert, und Ferry gab seine Entlassung. Der Dringlichkeitsantrag der Opposition, das Ministerium in Anklagezustand zu versetzen, wurde mit 304 gegen 161 Stimmen abgelehnt.

Der Nachfolger Ferrys, der Kammerpräsident Brisson, hatte insofern leichteres Spiel, als jener bereits den Frieden mit China angebahnt hatte und die Erfolge der franz. Flotte bei der Insel Formosa den Hof zu Peking nachgiebig machten. Am 4. April kam es in Paris zu Präliminarien, 9. Juni zum Definitivfrieden von Tien-tsin, worin sich China zur Räumung Tongkings und zur Verzichtleistung auf die Oberhoheit über Annam verstand, F. dagegen auf Kriegskostenentschädigung keinen Anspruch erhob. Nach der Beilegung dieses Streites konnte sich Brisson mit innern Fragen beschäftigen. Das wenige Tage vor Ferrys Sturz in der Kammer beschlossene Listenwahlgesetz wurde 23. Mai auch vom Senat genehmigt, nur mit der Einschränkung, daß in die der Wahl zu Grunde liegende Bevölkerungsziffern die Ausländer nicht einzurechnen und die Mitglieder der frühern Herrscherhäuser nicht wählbar seien. Die Kammer gab hierzu ihre Zustimmung, und 17. Juni wurde das neue Wahlgesetz verkündet, wonach die Kammer fortan 584 Mitglieder zählen sollte. Brisson hatte die Annahme dieses Gesetzes betrieben in der Meinung, damit eine gesicherte republikanische Mehrheit zu erreichen, aber man erfuhr eine ungeheure Enttäuschung. Das neue Wahlgesetz verhalf bei den Wahlen 4. Okt. 1885 einer großen Anzahl Monarchisten zu Mandaten. Freilich wurden dann bei den 270 Stichwahlen durch Kompromisse mit den Radikalen fast nur Republikaner gewählt, doch waren dadurch 115 Radikale in die Kammer gelangt, die mit den Gemäßigten gemeinsam allerdings die Mehrheit den 200 Monarchisten gegenüber bildeten, von denen aber doch fraglich war, ob sie stets bereit sein würden, das Ministerium zu unterstützen. Die Lage war eine ganz veränderte. Dies bekam Brisson sofort zu empfinden, als er, um die Stellung F.s in Asien aufrecht zu halten, von der neuen Kammer einen Kredit von 70 Mill. forderte und diesen nur mit 274 gegen 270 Stimmen zugestanden erhielt. Auch Grévy erfuhr den Wechsel der Dinge, als sich 28. Dez. 1885 bei seiner Neuwahl zum Präsidenten im Kongreß nur 457 Stimmen (15 über die absolute Majorität) auf ihn vereinigten. Brisson gab, da er nur jene geringe Mehrheit in der Kammer gefunden hatte, seine Entlassung, und 7. Jan. 1886 trat Freycinet an seine Stelle, der aus Opportunisten und Radikalen ein neues Kabinett bildete. Sadi Carnot übernahm darin die Finanzen, Sarrien das Innere, Goblet den Unterricht, Baïhaut die Bauten, Lockroy den Handel, Demôle die Justiz, Develle den Ackerbau, Granet die Post, Aube die Marine und Boulanger, von Clémenceau protegiert, das Portefeuille des Krieges.

So hatten die letzten Abgeordnetenwahlen ergeben, daß das Ministerium sich nicht mehr auf eine einzige starke Partei in der Kammer stützen konnte, sondern jetzt auch die Hilfe der Radikalen durch allerlei Zugeständnisse erkaufen mußte. Dies zeigte sich gleich im Jan. 1886, als Rochefort den Antrag auf eine allgemeine Amnestie an Stelle der beschränkten, wie sie Grévy erlassen hatte, stellte und die Kammer 21. Jan. die Dringlichkeit mit 3 Stimmen Mehrheit votierte. Da machte die Regierung die Wahrnehmung, daß sogar eine Koalition der Monarchisten und der hartnäckigsten Republikaner möglich war. Freilich zerfiel dieses unnatürliche Bündnis sofort, als es bald nachher bei Arbeiterunruhen in Decazeville zur Ermordung eines Beamten kam und man die Unruhen auf socialistische Umtriebe zurückführte. Jener Antrag Rocheforts fiel, aber immerhin zog Freycinet daraus die Lehre, daß er sich zu Konzessionen an die Radikalen werde herbeilassen müssen, wozu sich alsbald die Gelegenheit bot, als die Frage der Ausweisung der Prinzen zur Sprache kam. Denn namentlich ihrem Einflusse glaubte man die Wahl jener 200 Monarchisten im Oktober zuschreiben zu müssen. Freycinet widerlegte diese Meinung, als der Radikale Daché den bezüglichen Ausweisungsantrag stellte, und es gelang ihm, noch 4. März denselben zu Fall zu bringen. Als dann aber das fast monarchische Auftreten des Grafen von Paris bei Gelegenheit der Vermählung seiner Tochter Amélie mit dem Kronprinzen Karl von Portugal 22. Mai 1886 neuerdings das Mißtrauen der Republikaner erregte, vereinigten sich beide Kammern über die Bestimmungen eines Gesetzes, das dem Antrage des Abgeordneten Brousse zufolge im Juni folgende Hauptpunkte festsetzte: die Häupter der franz. Regentenfamilien und deren nächstberechtigte Erben sind aus F. verwiesen; die Regierung kann durch Dekret auch die andern Mitglieder verbannen; Übertretung dieses Verbotes wird mit Gefängnis von 2 bis 5 Jahren bestraft. Das Gesetz erschien 23. Juni 1886 im Amtsblatt, und schon am nächsten Tage begaben sich der Graf von Paris, sein Sohn Louis Philipp Robert, Prinz Jérôme Napoleon und sein ältester Sohn Victor ins Ausland; da das Gesetz aber auch die übrigen Prinzen von allen öffent-^[folgende Seite]