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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Französische Litteratur

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Französische Litteratur (Neufranzösische Periode seit 1870)

er durch seine Umgebung bestimmt und unter dem Spiel aller seiner Organe thätig ist. Überzeugt von dem Übergewicht des Schlechten in der Welt, verbunden die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit nur im Sichtbaren erkennend, giebt der Naturalist vor, eine sittliche Pflicht in der Darstellung des Niedrigen und Gemeinen zu erfüllen, und scheint nicht zu wissen, wie sehr seine Werke unsaubern Gelüsten fröhnen, seine "urkundlichen" Schilderungen sittlicher und physischer Verkommenheit Keime des Unheils aussäen. Seit dem Tode seines Bruders Jules (1870) hat Edmond de Goncourt nur noch einen beachtenswerten Roman veröffentlicht ("Les frères Zemganno", 1879). Das Haupt der Schule des objektiven Naturalismus wird Zola, der seit 1871 eine Reihe von pathol.-physiol. Romanen unter dem Gesamttitel "Les Rougon-Macquart" verfaßt und veröffentlicht hat, die "bürgerliche und natürliche Geschichte" einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich, die sich durch 19 Bände hindurchzieht ("La fortune de Rougon", 1871, bis "Docteur Pascal", 1893); bei einer Fülle trostloser und abstoßender Einzelheiten, bei einer bisweilen pedantisch-kleinlichen Vorliebe für Schmutz und Detailausführung zeugen diese Werke von großer Sprachgewalt, von seltener Kraft und Fähigkeit, äußere Zustände und Stimmungen darzustellen. Seine Poetik enthält der "Roman expérimental" (1880). Neben Zola ist Alphonse Daudet seit seinem Pariser Sittenbilde "Fromont jeune et Risler ainé" (1874) der erfolgreichste neuere Romanschriftsteller Frankreichs. In seinen frühern Werken unterscheidet ihn größere Decenz und vornehmere Haltung von Zola, er zeigt liebenswürdigen Humor und ist ein Meister feiner Ironie, hat sich aber zuletzt den Naturalisten sehr genähert. Eine Anzahl jüngerer Schriftsteller, die sich um Zola sammelten, gaben in den "Soirées de Médan" (1880) die ersten Beweise ihres Könnens und ihrer Zugehörigkeit zur Schule des Meisters. Einer der eifrigsten "Médanisten" war Paul Alexis ("Éducation amoureuse", 1890), auch Henri Céard, Camille Lemonnier ("Le possédé", 1890), Henri Rabusson, Edouard Rod ("La vie privée de Michel Teissier", 1892), Paul Mariéton, Octave Mirbeau u. a. folgen seiner Richtung. Als Zolas Roman "La terre" (1887) erschien, worin Schmutz und Abscheu sich häuften, kündigten ihm fünf Anhänger die Heeresfolge, unter ihnen der begabte Niederländer J. K. Huysmans (geb. 1848), Lucien Descaves, Paul Margueritte, J. H. Rosny ("Daniel Valgraive", 1891). Diese und andere Schriftsteller, wie Marcel Prévost ("Confession d'un amant", 1891), sind des materialistischen Pessimismus überdrüssig und der "Roman der Zukunft" soll wieder den idealen Bedürfnissen, dem "besoin d'une expression romanesque" des Lebens in höherm Grade gerecht werden. Eine Mittelstellung zwischen den Naturalisten und den Psychologen nahm Guy de Maupassant (gest. 1893) ein, der in Werken wie "Pierre et Jean" (1888), "Fort comme la mort" (1889) durch einfache Darstellung ergreifender Konflikte und psychol. Tiefblicke sich Zola überlegen gezeigt hat. Die eigentlichen "Psychologen" oder "Analytiker", die sich Mühe geben, das menschliche Seelenleben besonders in seinen Ausartungen und krankhaften Nervenzuständen zu ergründen und darzustellen, mit möglichst wenig eigener Empfindung, berufen sich auf Beyle; an ihrer Spitze steht Paul Bourget ("Cruelle énigme", 1885, "Crime d'amour", 1886, "Mensonges", 1887), der mit seinen nervösen Heldinnen und Helden ("Le disciple", 1889) aus den gebildeten und wohlhabenden Ständen und seiner zart abgetönten Darstellung den geraden Gegensatz zu Zola bildet. Bourget ist zugleich der Vertreter der psychologischen litterar. Kritik ("Essais de psychologie contemporaine", 1883). Auch J. Le Maître und Anatole France gefallen sich in der Kleinmalerei. Gyp (Gräfin Martel-Mirabeau) verfaßte übermütige satir. Geseltschaftsbilder, während Ferdinand Fabre in seinen bedeutenden Romanen die Seelenkämpfe des Seminaristen, den Ehrgeiz des Priesters ("L'abbé Tigrane", 1873, "Ma vocation", 1889) und das Leben in seiner Cevennenheimat mit Ernst und Kraft dargestellt hat. Der Provinz- und Dorfroman wird ferner von Pouvillon ("Chante-Pleure", 1890), Antony Blondel ("L'heureux village", 1892) u. a. mit Erfolg gepflegt. Nach psychol. Vertiefung und genauer Wiedergabe des Zuständlichen streben übrigens auch die Schriftsteller, die einer idealern Auffassung der menschlichen Natur huldigen. Für Octave Feuillet (gest. 29. Dez. 1890), dessen letzte Werke "La morte" (1886) und "Honneur d'artiste" (1890) sind, ist der "Sous-Feuillet" Henri Rabusson eingetreten als Verfasser vornehmer Gesellschaftsromane; neben Cherbuliez wurde André Theuriet ein fleißiger Mitarbeiter der "Revue des Deux Mondes"; Ohnet, nach Zola der gelesenste Schriftsteller des heutigen Frankreich, schildert in seinen zehn Romane umfassenden "Batailles de la vie" (1881-91) mit Vorliebe den siegreichen Kampf bürgerlicher Tüchtigkeit und ehrlicher Arbeit gegen Vorurteil und gesellschaftliche Verderbtheit. Beliebte Tagesschriftsteller sind Ernest Daudet, Henri Gréville (Frau Alice Durand), die zuerst ihre Helden und Stoffe aus Rußland holte, Thérèse Bentzon (Frau Blanc), Albert Delpit, Hector Malot, Frau Charles Bigot (Jeanne Mayret), Léon de Tinseau u. a. Die Abart des jurist. Romans ist vertreten durch die Werke des ehemaligen Oberstaatsanwalts Quesnay de Beaurepaire, der unter dem Namen Jules de Glouvet schreibt. Außerdem giebt es Kasernenromane (L. Descaves, Reibrach, Abel Hermant), Schilderungen des Pariser Elends auf allen Stufen der Gesellschaft (Hugues Le Roux) u. s. w. Stark von Deutschenhaß beeinflußt sind Erckmann-Chatrian in ihren seit 1871 erschienenen Schilderungen aus dem Elsässer Volksleben ("Histoire du plébiscite", 1872). Unter den histor. Romanen dürfte V. Hugos "Quatre-vingt-treize" (1874) die bedeutendste Erscheinung dieser Periode sein. Ungemein schnell hat sich Loti (der Marineoffizier Julien Viaud) einen Namen gemacht, dessen episodenhafte, meist schwermütige Geschichten einen eigenartigen Reiz durch die meisterhaft ausgeführten Schilderungen fremdländischer Schauplätze ("Le mariage de Loti", 1882, "Madame Chrysanthème", 1888) und des Lebens der Fischer und Seeleute ("Pêcheur d'Islande", 1886) ausüben. Ganz besonders tritt in der neuesten Zeit wieder die Novelle hervor, in der sich die verfeinerte Erzählungskunst in ihrer höchsten Ausbildung zeigt. Hier sind vor allem die Sammlungen Coppées zu erwähnen ("Contes rapides", "Les vrais riches", 1892), Bourgets "Pastels" (1889), die Legenden von Anatole France und Jules Lemaître, die formvollendeten Erzählungen von Catulle Mendès, welche ebenso cynisch wie seine Romane sind u. a. m.