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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Gehirn

gegen wieder allmählich, mit Ausnahme der Brücke, an Umfang und Gewicht ab.

Bezüglich der Verrichtungen des G. haben die Beobachtungen am Krankenbett, die Befunde bei den Leichenöffnungen und die Experimente an Tieren übereinstimmend mit Sicherheit ergeben, daß das G. ausschließlich als das Organ der Seele zu betrachten ist und daß das normale Ablaufen aller seelischen Verrichtungen ganz und gar von der normalen Beschaffenheit der Hirnsubstanz abhängt. Insbesondere wird das oberste Grundvermögen des Menschen, das Bewußtsein, nur durch das G. vermittelt, und die intellektuellen Fälligkeiten überhaupt: Vorstellen, Denken, Wollen, Empfinden, gelangen nur vermittelst der Organisation des G. zur Wirkung und Entfaltung. Dabei haben zahlreicbe Beobachtungen am kranken Menschen wie am vivisezierten Tiere erwiesen, daß alle mit Bewußtsein verbundenen Verrichtungen vom Großhirn, namentlich von der Hirnrinde desselben, ihren Ausgang nehmen, während das Kleinhirn vorwiegend als Koordinationscentrum dient, d. h. die Ordnung und Gleichmäßigkeit in den willkürlichen wie unwillkürlichen Bewegungen zu vermitteln hat. Von besonderer Wichtigkeit ist das paarweise Vorhandensein und die symmetrische Anordnung der meisten Hirnabschnitte, wodurch ermöglicht wird, daß bei örtlich umschriebenen Krankheitsherden unter gewissen Umständen der betreffende paarige Hirnteil der gefunden Seite vikariierend für den erkrankten eintreten kann. Ein wichtiger Umstand ist ferner die Kreuzung der Nervenfasern innerhalb der Pyramiden des verlängerten Marks, wodurch es erklärlich wird, weshalb Verletzungen von Hirnteilen oberhalb des Hirnknotens oder des letztern selbst immer Störungen in den Funktionen der der verletzten Seite entgegengesetzten Teile des Körpers zur Folge haben; so wird bei Blutergüssen in der linken Großhirnhemisphäre die rechte Körperhälfte gelähmt.

Die Funktionen der einzelnen Hirnteile sind in neuerer Zeit durch genaue anatom. und physiol. Untersuchungen sowie durch die Verwertung der entwicklungsgeschichtlichen Vorgänge und der Sektionsbefunde im Verein mit klinischen Beobachtungen immer mehr aufgeklärt worden. Jede bestimmte Funktion ist an eine bestimmte Stelle im Gehirn und Rückenmark gebunden. So bat sich gezeigt, daß das Sprachvermögen seinen Sitz in einer ganz bestimmten Gegend des Vorderhirns hat, nämlich in der dritten Stirnwindung im Bereich der vordern Ausbreitung der Sylviusschen Grube, und daß regelmäßig Aphasie oder Sprachlähmung eintritt, wenn dieser Hirnteil durch Blutergüsse oder andere pathol. Vorgänge zerstört wird. Weiterhin wird auf Grund zahlreicher Tierversuche angenommen, daß die graue Hirnrinde regionenweise mit den einzelnen sensibeln und motorischen Nervenendigungen der Körperoberfläche zusammenhängt. So findet sich im Hinterhauptslappen die Sehsphäre; das Centrum für das Muskel- und Hautgefühl liegt im Bereich der Interparietalfurche; mehr nach vorn zu beiden Seiten der Centralfurche und in der obern Scheitelwindung liegt das motorische Rindenfeld für die Bewegung der Arme und Beine, gleich hinter dem oben erwähnten Sprachcentrum der Ursprung der Gesichts- und Zungennerven u. s. w. Während die mehr nach vorn liegenden Teile des G. vorwiegend den psychischen Verrichtungen dienen, sind die dem Rückenmark näher gelegenen Hirnabschnitte dem animalischen und organischen Leben gewidmet. So hängt der ungestörte Fortgang der Atmungsbewegungen sowohl wie der Herzthätigkeit, ferner der Bewegungen der Unterleibsorgane und der Kontraktionszustand der Gesäßmuskulatur wesentlich von dem verlängerten Mark ab, dessen Verletzung sofortiges Aufhören des Redens zur Folge hat. Die psychische Thätigkeit des G., also das Bewußtwerden von Gefühlen, das Denken und Wollen, läßt sich auf drei wesentlich voneinander verschiedene Vorgänge, auf eine centripetale, centrale und centrifugale Thätigkeit zurückführen. Die centripetale Aktion, die lediglich das Gefühl vermittelt, besteht im Wahrnehmen der durch die Sinnes- und Empfindungsnerven zugeleiteten Reizungen, sonach im Bewußtwerden alles dessen, was mit uns von außen und innen her vorgeht, was von der Außenwelt in uns eindringt. Die centrale Aktion bewirkt die Verarbeitung der empfangenen Sinnes- und Empfindungseindrücke zu Vorstellungen und die Verwendung dieser letztern zur Bildung von Begriffen, Urteilen und Schlüssen, d. i. zum Denken. Die centrifugale Aktion endlich vermittelt das Begehren, Streben und Wollen und äußert sich vermöge ihres Einflusses auf die willkürlichen Bewegungsapparate im Handeln. Von der centripetalen Aktion können Überstrahlungen entweder sofort auf die centrifugale Aktion stattfinden oder erst mittels der centralen Aktion dahin geleitet werden, und umgekehrt. Überstrahlungen und Reflexe finden überhaupt sehr leicht im G., selbst bei bewußtlosem Zustand, statt, wie eine Reihe unwillkürlicher, aber zweckmäßiger Bewegungen bei schlafenden, Chloroformierten und Hypnotisierten beweist.

Litteratur. Reichert, Der Bau des menschlichen G. (2 Abteil., Lpz. 1859-61); Bischoff, Die Großhirnwindungen bei den Menschen (Münch. 1868); Luys, Das G., sein Bau und seine Verrichtungen (Lpz. 1877); Bischoff, Das Hirngewicht des Menschen (Bonn 1880); P. Flechsig, Die Leitungsbahnen im G. und Rückenmark (Lpz. 1876); ders., Plan des menschlichen G. (ebd. 1883); Bastian, Das G. als Organ des Geistes (2 Bde., ebd. 1882); Meynert, Sammlung von populär-wissenschaftlichen Vorträgen über den Bau und die Leistungen des G. (Wien 1892); Edinger, Vorlesungen über den Bau der nervösen Centralorgane (3. Aufl., Lpz. 1892); Sachs, Vorträge über Bau und Thätigkeit des Großhirns (Bresl. 1892); Kronthal, Schnitte durch das centrale Nervensystem des Menschen, gefertigt, photographiert und erläutert (Berl. 1892).

In der Tierreihe kann von einem eigentlichen G. bloß bei den Wirbeltieren die Rede sein (für die entsprechend funktionierenden Organe bei Wirbellosen s. Nervensystem). Das G. der Säugetiere schließt sich in seinem Bau im allgemeinen an dasjenige des Menschen an, jedoch finden sich in der Entwicklung der einzelnen Teile desselben beträchtliche quantitative Unterschiede, die besonders die Hinterlappen der großen Hemisphären betreffen. Bei den Monotremen und einigen niedern Beuteltieren bleibt der Vierhügel (Mittelhirn) noch unüberdeckt von ihnen, bei höhern Beuteltieren, Zahnarmen und Säugetieren ist die Überdeckung schon weiter vorgeschritten und bei Insektenfressern und Fledermäusen ist bloß noch das Kleinhirn, aber im ganzen, sichtbar. Diese Überdeckung schreitet nun in aufsteigender Linie in den Ordnungen fort, bis