Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

101

Gnade

allein auf die unverdiente göttliche G. zurück. Dieser Gegensatz von Sünde und G. beherrscht daher für die christl. Frömmigkeit das Leben des Einzelnen wie der Menschheit und bedingt das Hervortreten der Gesetzesreligion, welche die Sünde vergeblich bekämpft, und der Erlösungsreligion, welche allein sie wirklich aufhebt. Der auf allen seinen Stufen in göttlicher Ursächlichkeit begründete Fortschritt von der Knechtschaft des endlichen Subjekts unter dem Gesetz und der Sünde zu freier, gottversöhnter und gotterfüllter Geistigkeit (Gotteskindschaft), an sich ein rein geistig-innerlicher Vorgang, erscheint nach altkirchlicher Lehre als Resultat von äußern, übernatürlichen Einwirkungen des göttlichen Geistes (operationes gratiae), die an äußere göttliche Veranstaltungen zum Heile der Menschen sich anknüpfen.

Schon der Apostel Paulus lehrt, daß bei der gleichen Sündhaftigkeit von Juden und Heiden und bei der allgemeinen Unmöglichkeit für die Menschen, durch Werke des Gesetzes gerecht zu werden, die Rechtfertigung und sittliche Erneuerung des Sünders allein durch die G., näher auf dem mittels Christi Tod und Auferstehung durch freie göttliche G. dem Glauben angebotenen Heilswege erfolgen könne. (S. Rechtfertigung.) Die ältern Kirchenlehrer knüpften die Wirksamkeit der göttlichen G. noch bestimmter an die Wunderkraft der Taufe, der von seiten des Menschen die gläubige Aufnahme der kirchlichen Lehrüberlieferung entsprechen müsse, behaupteten dagegen eine Mitwirkung der auch durch den Sündenfall nicht völlig verloren gegangenen natürlichen Kräfte des Menschen zum Werke der Bekehrung. (S. Synergismus.) Erst Augustinus stellte im Streite mit Pelagius (s. Pelagianer) die Lehre auf, daß der durch Adams Fall völlig verderbte und aller Freiheit zum Guten verlustig gegangene Mensch allein durch die unwiderstehlich wirkende G. (gratia irresistibilis) bekehrt werde, sodaß der göttliche Geist ohne alle Mitwirkung von seiten des Menschen das Werk der Wiedergeburt in der Seele anfange, fortführe und vollende. Auch der Glaube (s. d.) erschien auf diesem Standpunkte ausschließlich als ein Werk der göttlichen G. Da aber nach der Erfahrung nur der kleinere Teil des Menschengeschlechts bekehrt wurde, so behauptete Augustinus weiter, daß Gott nach seinem freien Willen die Menschen, die er zur Seligkeit vorherbestimmt habe, auswähle und sie durch die G. bekehre. Dieses Auswählen nannte man die Gnadenwahl. (S. Prädestination.) Trotz des großen Ansehens des Augustinus blieb doch in der röm. Kirche der Synergismus die herrschende Vorstellung. Doch war man darüber, wie viel die G. thun müsse und der Mensch mitwirken könne, nicht einerlei Meinung. Besonders über die Frage, ob der Mensch die Kraft besitze, sich zum Empfang der G. vorzubereiten, entstand zwischen den Dominikanern als Anhängern des Thomas von Aquino (s. d.), der es leugnete, und den Franziskanern als Anhängern des Duns Scotus (s. d.) ein langer und heftiger Streit.

Die Reformatoren nahmen des Augustinus Vorstellung von Erbsünde und G. wieder auf. In seiner Schrift «De servo arbitrio» verteidigte Luther gegen Erasmus die Lehre von der absoluten Unfreiheit des Menschen und von der alles allein wirkenden G. in ihrer schroffsten Gestalt. Dieselbe Lehre liegt den Katechismen Luthers und der Augsburgischen Konfession von 1530 zu Grunde. Später aber milderte Melanchthon dieselbe und behauptete wenigstens eine Fähigkeit des natürlichen Menschen, die G. anzunehmen oder abzulehnen. Die Konkordienformel (s. d.) setzte jedoch fest, daß der natürliche Mensch, solange ihn die G. nicht bekehrt habe, derselben nur widerstreben könne, in der Bekehrung selbst aber sich schlechthin passiv verhalte. Nur eine sog. «bürgerliche Gerechtigkeit» (justitia civilis) gestand sie ihm zu, d. h. die Fähigkeit, grobe, durch das Gesetz verbotene Sünden zu meiden, jedoch nicht aus Liebe zu Gott und und zum Guten. Diese Lehre blieb innerhalb der luth. Kirche die herrschende. Der Widerspruch, daß der Mensch aus eigener Kraft die G. nicht annehmen, wohl aber durch eigene Schuld ablehnen könne, sodaß dieselbe also gleichwohl nicht unwiderstehlich wirke, wurde von der luth. Dogmatik nur künstlich durch die Behauptung verdeckt, daß wenigstens dem natürlichen Menschen zunächst freistehe, die Predigt des göttlichen Wortes äußerlich zu hören und die kirchlichen Sakramente zu gebrauchen, durch welche Mittel (Gnadenmittel) der Heilige Geist dann insoweit unfehlbar wirke, daß der Mensch die Freiheit zurückerhalte, die G. anzunehmen oder abzulehnen. Namentlich wurde die Wirksamkeit der Taufe als eine magische Wiederherstellung der Freiheit zum Guten beschrieben. Die reform. Kirche dagegen hielt an dem konsequenten Augustinismus, namentlich auch an dem Satze von der Unwiderstehlichkeit der Gnadenwirksamkeit und an der strengen Lehre von der Gnadenwahl fest. (S. Prädestination.) In der röm. kath. Kirche wurde durch das Tridentinische Konzil (s. d.) festgesetzt, der Mensch müsse durch die G. zur Bekehrung geneigt gemacht werden, könne aber dann dazu mitwirken. Da indes die Dominikaner ihre frühere Lehre festhielten, die Jesuiten aber synergistisch lehrten, so entstand darüber zwischen beiden ein langer Streit, zu dessen Erledigung der Papst Clemens Ⅷ. 1598 eine eigene Kommission, die Congregatio de auxiliis gratiae, niedersetzte, die aber keine Entscheidung aussprach. Der Streit entbrannte aufs neue in Frankreich und den Niederlanden durch das von dem Bischof Jansen (s. d.) von Ypern geschriebene und nach seinem Tode bekannt gewordene Buch «Augustinus» (1638), worin die strenge, aber von den Jesuiten bekämpfte Theorie des Augustinus vorgetragen war.

Die neuere Entwicklung der prot. Theologie hat auch die Lehren von der G. und Gnadenwahl vielfach umgestaltet. Während die Supranaturalisten synergistisch lehrten, die Nationalisten aber die Wirksamkeit der G. zu einer leeren Formel herabdrückten, lehrte Schleiermacher, daß die aus dem Gesamtleben der Sünde heraustretenden Christen durch die G. mittels des Glaubens an Christi Person in ein neues Gesamtleben eingepflanzt würden, worin das göttliche Leben das herrschende Princip, die Sünde aber immer mehr im Verschwinden begriffen ist. Die Gnadenwahl beschrieb Schleiermacher als eine zwar unbedingte, aber auf alle ohne Ausnahme sich erstreckende. Die neuere Vermittelungstheologie hat diese Schleiermacherschen Gedanken mit den ältern kirchlichen Vorstellungen von der Erbsünde, der übernatürlichen Geisteswirksamkeit und der wunderbaren Kraft des göttlichen Wortes und der Sakramente notdürftig auszugleichen gesucht, hinsichtlich der Prädestination aber meist synergistisch gelehrt oder doch die Erwählung vom vorhergesehenen Gebrauch der Gnadenmittel abhängig gemacht. Die Folgewidrigkeiten dieser Theorie