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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Großbritannien und Irland (Geschichte 1833-46)

des unterdrückten Irland erfüllt, noch die bedrohliche Unruhe daselbst beseitigt. Vor allem richtete sich der Widerstand der kath. Iren gegen die Zahlung des Kirchenzehnten an die anglikan. Geistlichkeit. Der systematischen Zahlungsverweigerung dachte das Ministerium Grey durch Zwangsmaßregeln zu begegnen und brachte ein Gesetz, die sog. Zwangsbill, zur Annahme im Parlament, das dem Vicekönig zeitweise die Anwendung des Kriegsrechts gestattete. Gleichsam einen Entgelt dafür sollte die Kirchenreformbill bieten, welche die übertrieben hohen Einkünfte der Kirche ermäßigte und überflüssige Stellen beseitigte. Zu den bedeutenden Thaten dieser Session gehörte die völlige Abschaffung der Sklaverei in den engl. Kolonien, die Aufhebung der Handelsprivilegien der Ostindischen Compagnie und die Freigabe des Handels nach dem Osten. Die Zehntbill der Regierung, die in Irland an Stelle der vom Pächter entrichteten Zehnten eine vom Grundherrn zu zahlende Geldabgabe setzte, kam zu Fall, namentlich wegen einer Zusatzbestimmung der sog. Appropriationsklausel (s. d.), welche die neugewonnenen Überschüsse aus dem irländ. Kirchenvermögen für gemeinnützige Zwecke, besonders für Schul- und Armenwesen, verwenden wollte. Obendrein hatte sich Zwiespalt im Ministerium gezeigt, sodaß Grey 1834 abtrat und der bisherige Minister des Innern Melbourne die Leitung übernahm. Der Charakter der Whigregierung blieb durch diesen Personenwechsel unberührt, nur wurde die viel angefeindete Zwangsbill gemildert. Wieder wurde die Zehntbill eingebracht und vom Unterhause angegenommen^[korrekt: angenommen], vom Oberhause dagegen abgelehnt, worauf das Parlament vertagt wurde. Als aber jetzt der stürmisch-agitatorische Kampf gegen die Regierung in der Öffentlichkeit fortgesetzt und das Ministerium des Einverständnisses mit dem irländ. Agitator O'Connell verdächtigt wurde, entschloß sich der König zu der plötzlichen Entlassung des Kabinetts (14. Nov. 1834).

Auf Wellingtons Empfehlung beauftragte er Robert Peel mit der Bildung eines Torykabinetts; die Neuwahlen (1835) brachten jedoch keine ministerielle Mehrheit, und Peel sah sich schon April 1835 zum Rücktritt bewogen, worauf Melbourne wieder an seine Stelle trat. Dieser unternahm eine wichtige Reform durch die Einführung der engl. Städteordnung (9. Sept. 1835). Ähnlich wie in der Parlamentsregierung vor der Reform sah es in den städtischen Verwaltungen aus, wo die von jedem Zusammenhang mit der Bürgerschaft gelösten, sich selbst ergänzenden Magistrate ein eigennütziges und drückendes Willkürregiment führten; das neue Gesetz gab die Wahlen der städtischen Beamten an die Steuerzahler. Die Regierung hatte inmitten der alten Tories und der neuen Radikalen eine schwierige Stellung und überhaupt mit den ungewohnten, durch die Reform veranlaßten Parteiverschiebungen zu rechnen. Ihre Mehrheit bestand aus den alten Whigs und den weit über sie hinausgehenden Radikalen, neben diesen aus den mit eigenen Wünschen sich vordrängenden Iren unter O'Connell. Sie mußte 1836 gegen die Orangelogen (s. d.) in Irland einschreiten, in denen sich die engl.-prot. Elemente gegen das kath. Irentum vereinigt hatten; denn diese hatten gegen die Katholikenbefreiung und die beabsichtigten Reformen eine der Regierung gefährliche Haltung einzunehmen begonnen, sodaß sie aufgelöst und unterdrückt werden mußten. Ein Gesetz zur Reform der irländ. Städteverfassung scheiterte am Widerstand des toryistischen Oberhauses. Ebenso bekämpften die Tories die Politik des Staatssekretärs des Auswärtigen, Palmerston, der zum Schutz der liberalen Verfassungen der Pyrenäischen Halbinsel gegen die absolutistischen Gelüste des Don Carlos und Dom Miguel schon 22. April 1834 mit Frankreich, Spanien und Portugal die Quadrupelallianz abgeschlossen hatte. Mitten im erbitterten Kampf um innere und äußere Fragen während der Session von 1837 starb König Wilhelm IV. in der Nacht vom 19. zum 20. Juni.

Mit seinem Tode erfolgte die Loslösung Hannovers, das die weibliche Thronfolge ausschloß, von dem großbrit. Reiche. Während dort ein jüngerer Bruder Wilhelms, der Herzog von Cumberland, als König Ernst August den Thron bestieg, folgte in Großbritannien die einzige Tochter eines ältern Bruders, des Herzogs von Kent, die achtzehnjährige Victoria (s. d.).

Die von Melbourne für ihren königl. Beruf in whigistischem Sinne herangebildete Monarchin eröffnete der Whigregierung an ihrem Hofe bessere Aussichten, als sie unter dem verstorbenen König besessen hatte; aber die gesunkene Macht der Krone zeigte sich darin am deutlichsten, daß gerade damals die Whigs an Boden verloren. In dem neuen Parlament, das 19. Nov. 1837 eröffnet wurde, war die liberale Mehrheit noch schwächer und schwankender als zuvor. Eine geringe Festigkeit bewies das Ministerium gegenüber der Empörung in Canada (s. d., Bd. 3, S. 892). Der mit besondern Vollmachten abgesandte Graf Durham war streng und mit Erfolg gegen die Empörer eingeschritten. Trotzdem gab die Regierung den Angriffen der Opposition gegen ihn nach und sprach dem Grafen ihre Mißbilligung aus, sodaß dieser voller Erbitterung seine Entlassung nahm. Auch die irische Zehntbill gelang es nur durch völligen Verzicht auf die Appropriationsklausel durchzubringen. Besondere Schwierigkeiten bereitete das Vorgehen der äußersten Radikalen, der sog. Chartisten (s. Chartismus) unter Führung O'Connors, die in ihrem Parteiprogramm, der "Volkscharte", äußerst demokratische Forderungen aufstellten, wie allgemeines Wahlrecht, jährliche Parlamente, geheime Abstimmung u. s. w. Sie arbeiteten mit Volksversammlungen und Massenpetitionen und beriefen 1838 einen Nationalkonvent nach London. Als sie aber Sommer 1839 zur gewaltsamen Durchführung ihrer Charte schritten, wurden ihre Versuche mühelos unterdrückt und die Führer deportiert. Diesem Erfolg stand ein ähnlicher in der auswärtigen Politik zur Seite. Die zweifelsohne von Rußland unterstützte Bedrohung Herats durch den Schah von Persien gab im Frühling 1839 den Engländern Gelegenheit zu einem siegreichen Zuge gegen Afghanistan (s. d., Bd. 1, S. 171 b) und damit zur neuen Befestigung ihrer ostind. Herrschaft. Gleichwohl begann die Febr. 1839 eröffnete Parlamentssession unter trüben Aussichten. Trotz der schlechten Ernte und dem herrschenden Nahrungsmangel bestanden noch immer die hohen Getreidezölle, die, zur Zeit der ausschließlichen Toryherrschaft geschaffen, eine Getreideeinfuhr geradezu ausschlossen. Im Mittelpunkt der industriellen Bevölkerung in Manchester hatte sich 1838 unter Cobdens Leitung die Antikornzollliga (s. Anti-Corn-Law-League) gebildet, die auf die Beseitigung der hohen Zölle hinarbeitete. Ihr Vorgehen im