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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Hessen-Cassel
Wilhelm I. starb 27. Febr. 1821, ihm folgte sein
Sohn Wilh elm II. (s. d.) in der Negierung. Durch
ein Organisationsedikt vom 29. Juni 1821 wurde
die Justiz von der Administration getrennt, der Ge-
schäftskreis aller Staatsbehörden genau bestimmt
und für die Regelmäßigkeit des Staatshaushalts
gesorgt; allein diese Organisation vermehrte die
obern Verwaltungsbehörden, dadurch den Kosten-
aufwand, und entbehrte der konstitutionellen Ga-
rantien. Hierzu kam noch das Anstoß erregende
Verhältnis des Kurfürsten zu Emilie Ortlöpp, die er
zur Gräfin von Reichenbach erhob. Am 6. Sept. 1830
brach in Cassel eine Bewegung aus, infolge deren
am 7. cine Vürgerbewaffnung eingeführt ward.
Hierauf bewilligte^der Kurfürst 15. Sept. dem Stadt-
rate zu Cassel das Gesuch um Versammlung der
Landstände. Inzwischen waren auch in Hanau und
Fulda Unruhen ausgebrochen, die sich in Cassel 6.
und 10. Okt. erneuerten. Die einberufenen Stände
der althess. Lande, denen auch Abgeordnete von
Fulda, Hanau und Isenburg und Schaumburg bei-
gegeben waren, traten 16. Okt. zusammen. Ihnen
wurde das neue Grundgesetz, das der Kurfürst
5. Jan. 1831 unterzeichnete, 9. Jan. feierlich über-
geben. Die Rückkehr der Gräsin Reichenbach nach
Wilhelmshöhe 10. Jan. und die darüber entstandene
Bewegung hatte indes zur Folge, daß die Gräsin
sich wieder zur Abreife entschließen muhte. Dies
reizte den Kurfürsten so, daß er feine Residenz
nach Hanau verlegte und 30. Sept. 1831 durch ein
Gesetz dem Kurprinzen Friedrich Wilhelm die Mit-
reacntfchaft und zugleich, bis er felbst wieder in die
Hauptstadt zurückkehren werde, die alleinige Regie-
rung übertrug. Am 7. Okt. hielt der Kurprinz-Mit-
regent seinen Einzug in Cassel. Der erste nach der
neuen Verfassung 11. April 1831 eröffnete Landtag
wurde, als er sich über die Maßregeln der Regie-
rung gegen Presse und Vereine und über die Aus-
nahmebeschlüsse des Bundestags aussprach, 26. Juli
wieder aufgelöst. Sein wichtigstes Ergebnis war
der Zollanschluß an Preußen und damit der Bei-
nitt zum Zollverein. Der zweite Landtag begann
mit Zwistigkeiten zwischen Ministerium und Stän-
den, die zu einer abermaligen Auflösung führten.
Der dritte Landtag, zum 15. April 1833 einberufen,
ward erst 10. Juni eröffnet. Anklagen gegen den
Minister Hassenpflug (s.d.) wurden vom Oberappel-
lationsgericht aus formellen Gründen verworfen.
Nachdem ein Gefetz über die Emancipation der
Juden zu stände gekommen war, schloß der Landtag
31. Okt. 1833 wenigstens mit einem verfassungs-
mäßig gefaßten Abschiede. Der Landtag für die
zweite Finanzperiode 1834-36, jedoch ohne neue
Wahlen, wurde 11. Nov. 1833 eröffnet, brachte eine
Gemeindeordnung zu stände und erzielte eine Min-
derung des Militäretats, wurde aber 6. April 1835
ohne Verabschiedung entlassen.
Inzwischen hatte der 12. Nov. 1834 erfolgte Tod
des Landgrafen Victor Amadeus von Hessen-Rhein-
fels-Rotenburg und der dadurch veranlaßte Heim-
fall der beträchtlichen Grundbesitzungen desselben
zu neuer Verwicklung zwischen der Regierung und
den Ständen Veranlassung geboten. (S. Hessen-
Rheinsels - Notenburg.) Der Landtag 1837 - 39
ward 22. Nov. 1836 eröffnet, aber noch unter dem
Ministerium Hassenpflug zweimal vertagt, nach
Hassenpstugs Austritt aus dem Staatsdienst und
der Stände Wiederberufung 5. Okt. 1837 unmittel-
bar nach der Abstimmung, zufolge deren die Ein-
nahmen der sog. Rotenburger Quart dem Finanz-
minister überwiesen werden follten, 10. März 1838,
aufgelöst. Hassenpflugs Nachfolger, Hanstein, hielt,
wenn auch minderschroff,doch diePrincipiendes Vor-
gängers aufrecht. Auch die zweite Ständeversamm-
lung der dritten Finanzperiode wurde 12. Juli ohne
Verabschiedung entlassen. Der Landtag 1840-42
wurde 25. Nov. 1839 eröffnet. Der Regierung ge-
lang es auch jetzt nicht, m den streitigen Finanz-
fragen die Zustimmung der Kammer zu erhalten.
Zu Ende 1841 war statt Hanstein Koch an die Spitze
des Ministeriums des Innern getreten und damit
ein milderes Element in die oberste Verwaltung
gekommen. Die Wahlen zu dem Landtage der fünf-
ten Finanzperiode, den der Kurfürst im Dez. 1842
eröffnete, waren für die Regierung günstiger aus-
gefallen, aber das Zögern der Regierung in der An-
lage von Eifenbahnen veranlaßte lebhafte Erörte-
rungen, die Kochs Rücktritt vom Ministerium nach
sich zogen. Die Verabfchiedung des Landtags er-
folgte 3. April 1844. Auch die nächsten Landtage
wurden bald nach Eröffnung wieder vertagt. In-
zwischen war zwar Koch wieder an die Spitze des
Ministeriums qetreten, aber sein Emfluh fchwand,
während der Üandtagskommissar Scheffer die lei-
tende Persönlichkeit wurde, bis 1847 Koch abermals
austrat und durch Schesfer ersetzt wurde.
Am 20. Nov. 1847 starb zu Frankfurt a. M. Kur-
fürst Wilhelm II., und der Kurprinz-Mitregent trat
nun als Kurfürst Friedrich Wilhelm!, (s.d.) die
Negierung an. Das Ministerium Scheffer konnte
felbst mit der diesmal gefügigern Ständeversamm-
lung sich nicht über die Fragen der Hofdotation
einigen. Unter folchen Verhältnissen mußten die
Februarrevolution von 1848 und die darauf folgen-
den Ereignisse in Deutschland in H. mächtig wirken.
Überall begann eine Petitionsbewegung, am stür-
mischsten in Hanau. In der Nacht vom 5. auf den
6. März entfernte sich Scheffer, 7. März versprach der
Kurfürst Aufhebung der Censur, Beseitigung der
Maßregeln gegen die Deutschkatholiken, öffentliches
und mündliches Gerichtsverfahrenmit Geschworenen
u. s. w. Eine Deputation aus Hanau verlangte
volkstümliche Minister, Auflösung der Stände, Am-
nestie, Religionsfreiheit, Mitwirkung zu einem deut-
schen Parlament, und der Kurfürst gewährte alles.
5n das neue Ministerium traten Eberhard, Schwe-
des, Moritz von Baumbach und Weih ein. Wipper-
mann ward Landtagskommissar, und in die Stände-
versammlung, die 13. März zusammentrat, wurden
die bisher Ausgeschlossenen zugelassen. Das Mini-
sterium verstärkte sich später durch Schenck von
Schweinsberg (Auswärtiges) und Wippermann
(Finanzen) und begann nun, nachdem eine polit.
Amnestie verkündet worden, die Gesetzgebung im
liberalen Sinne zu reformieren. Auch die ungelöste
Streitfrage über die Notenburger Quart fand jetzt
ihre Erledigung. Die Presse, die Religionsübung
ward frei, die bürgerliche Ehe eingeführt, die Po-
lizeiverwaltung den Gemeinden übertragen. Zur
Besetzung des obersten Gerichtshofs wirkten nun-
mehr die Stände mit; den Verwaltungsbeamten
stand künftig ein vom Volke gewählter Bezirksrat
zur Seite. Der so lange Zeit verzögerte Eisenbahn-
bau wurde jetzt vollendet, überhaupt nach allen
Richtungen auch materielle Verbesserung gefördert.
In den deutschen Angelegenheiten schloß sich Kur-
hessen den Negierungen an, die den Bundcsstaat
unter preuß. Leitung wollten, und erkannte die