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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Hugo (Victor Marie)

nicht aufführbar waren, so war das nur ein geringer Erfolg der Romantik. Anders in der Lyrik, für sie eroberten die «Orientales» neue Stoffe, Formen und Rhythmen; hier wurde die Sprache ihrer Schätze an Fülle, Klang, Farbe und Kraft zum erstenmal wirklich bewußt und in den Stand gesetzt, starken Empfindungen und feurigem Aufschwung gerecht zu werden. Freilich fehlte diesen orientalisch aufgeputzten Poesien die selbsterlebte Wahrheit. Diese besitzen die «Feuilles d’automne» (1831), die in tiefempfundenen Liedern die Poesie des Hauses und der Familie verkünden. Gleichzeitig hatte H., nachdem er vergeblich versucht, sein Drama «Marion Delorme» zur Aufführung zu bringen, am 26. Febr. 1830 mit «Hernani ou l’honneur castillan» im Théâtre français die Probe bestanden. Es war zur offenen Schlacht zwischen den Parteien im Publikum gekommen, aber die Romantiker glaubten gesiegt zu haben. Es folgten dann die Dramen «Le roi s’amuse» (1832), nach der ersten Aufführung verboten, «Lucrèce Borgia» (1833), «Marie Tudor» (1833), «Angelo» (1835), «Ruy-Blas» (1838). Entfernt H. sich hier von der klassischen Bühne durch Nichtbeachtung der Einheiten, freie Behandlung des Alexandriners, gelinde Beimischung des Komischen, so steht er ihr nahe durch sein deklamatorisches Pathos. Seine Stücke sind mehr lyrisch als dramatisch, ohne vernünftige Handlung mit nur im Umriß gezeichneten Gestalten. H. liebt auch im Drama die Antithese des Häßlichen und Schönen, die Erhebung Gesunkener durch ein reines Gefühl darzustellen. Seine Dramen sind reich an einzelnen wirkungsvollen Scenen und prächtigen lyrischen Stellen, sie haben aber kein dauerndes Leben auf der Bühne gewinnen können und sind auch ohne Nachfolge geblieben. Nur «Hernani» hat auch in der neuern Zeit (1867, 1878) auf der Bühne sich wirksam erwiesen. Von den spätern Stücken ist «Ruy-Blas» nicht frei von polit. Tendenz, und die Trilogie «Les Burgraves» (1843), die bei der ersten Aufführung durchfiel, eine so auf die Spitze getriebene Durchführung seiner dramat. Ideen, daß sie wohl als Selbstparodie des Dichters gelten könnte. Erst in hohem Alter hat H. wieder ein Drama veröffentlicht: «Torquemada» (1882), ein religiös-polit. Tendenzstück gegen den Fanatismus. Kaum war H. mit «Hernani» zur Anerkennung als Dramatiker durchgedrungen, als er durch seinen Roman «Notre-Dame de Paris» (1831) eine neue Seite seiner Begabung offenbarte und in dem Rahmen einer spannenden, durch ungeheuerliche Gegensätze wirkenden Erzählung ein buntes, lebendiges, mit einer Fülle, freilich nicht immer zuverlässigen, archäol. Wissens ausgestattetes Bild zeichnete, in dessen Mitte sich die ehrwürdige Kathedrale gleichsam als die Heldin des Romans erhebt.

Nach den Julitagen sind die religiösen und polit. Stimmungen H.s andere geworden. Seine frühere königstreue und kath. Gesinnung ist verschwunden, in den «Chants du crépuscule» (1835), die überwiegend politisch sind, äußert sich eine auf sociale Sympathien begründete, wenn auch loyale monarchische Opposition. In den «Voix intérieures» (1837) treten religiöse Zweifel hervor, auch in «Les rayons et les ombres» (1840) finden sich derartige Stimmungen. Aber, obgleich H. in diesem Zeitraum durch seine poet. Verherrlichung Napoleons auch nicht wenig zur Ausbildung der Napoleonischen Partei und Legende beigetragen hat, nahm er im ganzen eine freundliche Miene gegen die Monarchie Ludwig Philipps an. So wurde er im April 1845 zum Pair von Frankreich ernannt. 1841 hatte sich die Akademie verstanden, das Haupt der Romantiker aufzunehmen. Nach dem Sturz des Julikönigtums wurde H. in die Konstituierende Versammlung gewählt. Er zählte sich erst zur Ordnungspartei und beging dann die äußerliche Inkonsequenz, plötzlich zur äußersten Linken überzuspringen. Seiner innern Natur nach handelte er vielleicht konsequent; er war Gefühlspolitiker und hatte sich schon längst infolge im Gemüte wurzelnder Neigungen für Volksfreiheit, Volkssouveränität und für die Religion der Humanität begeistert. Schon in seinem Seelengemälde «Le dernier jour d’un condamné» (1829) hatte er gegen die Todesstrafe plädiert. Die polit. Ereignisse der folgenden Jahre machten ihn zu einem immer entschiedenern Anhänger demokratischer und socialpolit. Ideale, die denn auch in den größern Werken seiner letzten 30 Jahre durchaus in den Vordergrund treten. Die Ironie der Weltgeschichte wollte es, daß der Mann, der unter Ludwig Philipp die Napoleonische Legende am meisten gehegt hatte, ein erbitterter Widersacher Louis Napoleons werden sollte. Nach dem Staatsstreich (2. Dez. 1851) wurde H.s Name auf die Proskriptionsliste gesetzt. H. flüchtete nach Belgien, dann auf die Insel Jersey und nahm schließlich seinen Wohnsitz auf Guernsey, dem «Felsen», wo er sich ein fürstliches Haus (Hauteville-House) baute und es ablehnte, von der Amnestie vom 15. Aug. 1859 Gebrauch zu machen. Aus der Verbannung schleuderte er das mit aller Bitterkeit durchtränkte Pamphlet «Napoléon le Petit» (Brüss. 1852) und bis zur Unvernunft leidenschaftliche Gedichte: «Les châtiments» (Brüss. 1852), gegen Napoleon Ⅲ. Eine reife Leistung aus dieser Zeit ist die Sammlung «Les contemplations» (2 Bde.,1856‒57), deren Gedichte meist dem eigenen Leben entnommen sind, innig und warm, schlicht und wahrhaftig, ohne gesuchte Antithesen und pomphafte Vergleiche. Darauf folgten noch «Chansons des rues et des bois» (1865), ein Erzeugnis sonderbarer Verirrungen. Eine Reihenfolge epischer Visionen auf geschichtlicher Grundlage stellt die «Légende des siècles» (1. Tl. 1859; 2. und 3. Tl. 1877; 4. Tl. 1883) dar, welche den Fortschritt der Menschheit «zum Lichte» in einzelnen typischen Bildern durch alle Zeitalter hindurch bis auf die Gegenwart verfolgen sollte. Dann begiebt er sich in «Les misérables» (10 Bde., 1862), die zugleich alle glänzenden Seiten und alle Schwächen seines poet. Denkens und seiner Darstellung offenbaren, auf das Gebiet des socialen Romans (vgl. Barbey d’Aurevilly, Les misérables de Victor H., 1862); auch «Les travailleurs de la mer» (3 Bde., 1866) und «L’homme qui rit» (4 Bde., 1869) sind sociale Romane.

Einige Tage nach dem 4. Sept. 1870 kehrte H. nach Paris zurück. Eine seiner ersten Handlungen war, daß er den siegreich vorrückenden Deutschen in einem glühenden Aufruf zumutete, umzukehren und den gottlosen Gedanken der Belagerung einer Stadt wie Paris aufzugeben. Bei den Wahlen 8. Febr. 1871 wurde er vom Depart. Seine in die Nationalversammlung zu Bordeaux gewählt, wo er seinen Sitz auf der äußersten Linken nahm und 8. März seine Entlassung gab. Am 18. März, im Moment des Ausbruchs der Commune, brachte H. die Leiche seines plötzlich am Schlagfluß gestorbenen ältesten Sohnes Charles Victor von Bordeaux nach Paris, begab sich sodann nach Brüssel und trat, nachdem