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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Inkunabeln
Inkunabeln oder Wiegendrucke (vom lat.
incunadüla., d. h. Wiege), auch Erstlings-
drucke, heißen die frühesten Erzeugnisse der
Vuchdruckerkunst. Die zeitliche Grenze, bis zu
welcher sie diesen Namen führen, wird verschieden
angesetzt, meist jedoch brs zum I. 1500, so in
Hains "Ii6p6lwlium didlioAraziliiciiiu" (4 Bde.,
Stuttg. und Par. 1826 -38), dem bedeutendsten
Verzeichnis dieser Drucke. Obschon erst die Refor-
mation eine gewisse Umwälzung in dem bisherigen '
Betrieb des Buchdrucks und Buchhandels herbei- i
führte, empfiehlt es sich doch bereits 1500 als ^
Grenze zu wählen, weil bis dahin sowohl die ört- '
liche Ausbreitung der Kunst in den wichtigsten da- !
maligen Kulturländern als auch die äußere Gestal- ,
tung der Drucke und die Form der Typen zu einem
gewissen Abschluß gekommen war. Die Bedeutung
der I. liegt vorwiegend auf dem Gebiete der Buch- z
druaergeschichte nach den verschiedensten Seiten >
hin, aber auch inhaltlich hat ein ansehnlicher Teil z
von ihnen noch beträchtlichen Wert. Eine Reihe
von theol., kanonistischen, philos. und encyklopäd.
Werken des Mittelalters ist nur in Drucken des
15. Jahrh, erhalten; ebenso Volkslitteratur, Unter-
haltungs- und Erbauungsbücher, Kalender, Ader-
lahbüchlein, Ablaßbullen, Gedichte und andere Flug-
schriften, mit oder ohne Bilderschmuck, die ihrer
Zeit von ephemerem Wert waren und daher nicht
wieder gedruckt wurden, jetzt aber kultur- und lit-
teraturgeschichtlich höchst wichtig sind. Überdies!
haben alle ersten Drucke den Wert von Handschriften,
und wenn dieser auch textkritisch in den meisten
Fällen nicht überschätzt werden darf, fo sind für ein-
zelne Schriften doch nachweislich gute und jetzt ver-
lorene Handschriften benutzt worden, manche auch
in gar keinen andern Handschriften erhalten. - !
Bei Hain werden 16 299 Nummern, d. h. verschie-
dene Drucke angeführt, doch ist das Repcrtorium
in seinem letzten, nicht mehr vom Verfasser felbst !
zu Ende geführten Teile sehr unvollständig und!
überdies ist ihm gerade von kleinen Druckern, die
nur lokale Bedeutung hatten, vieles entgangen,
sodaß man wohl gegen 24000 verschiedene, noch in
mehr oder weniger Exemplaren erhaltene Drucke
dem 15. Jahrh, zuweisen darf. - Die Eigentüm-
lichkeiten der I. beruhen im wesentlichen darauf,
daß die Praxis der Handschriften längere Zeit fort-
wirkte, bis das neue Vervielfältigungsverfahren
in allen seinen Konsequenzen durchgeführt wurde.
Titelblätter fehlen anfangs ganz und enthalten auch
später durch längere Zeit nur eine kurze Hnhalts-
oezeichnung. Zeit und Ort des Druckes sowle Name
des Druckers werden sehr häusig gar nicht genannt
oder kommen in die Unterschrift (Kolophon), wie die
Handschriften nur am Ende, wenn überhaupt, eine
Angabe von Zeit (Ort) und Schreiber bieten. Die
Zählung der Blätter und Bezeichnung der Blatt-
lagen (Signaturen), die für die große Zahl über-
einstimmender Exemplare eines Druckes eine ganz
andere Bedeutung haben als für die unter sich stets
abweichenden Abschriften eines Buches, kommen
erst nach einigen Decennien auf. Ebenso überließ
man lange Zeit in der Regel die Zufügung von
Kapitel- und Seitenüberschriften, zum Teil selbst
von Registern, von Versalien und Initialen, die
Hervorhebung der großen Anfangsbuchstaben bei
Gedankenabschnitten und andere Seiten der Aus- >
stattung der Drucke (z. B. sogar die Interlinierung) !
der ergänzenden handschriftlichen Thätigkeit des!
Rubrikators. Der Anfang mit dem mehrfarbigen
Eindruck von Versalbuchstaben (mittels Metallstem-
peln) ist zwar in ausgedehntem Maße schon im
"?LHit6riuiu" von Fust und Schoeffer (1457), ein-
farbig (schwarz) sogar bereits in den Ablaßbriefen
von 1454 und 1455 gemacht worden, wie auch in
der ersten lat. Bibel Gutenbergs ein Teil der Auf-
lage in den ersten Blättern beider Bände den Ver-
such des roten Eindruckes von Kapitelüberschriften
zeigt. Doch wurde dies alles erst nach und nach der
Arbeit des Druckers fest überwiefen. Die hand-
schriftliche oder typogr. Ausführung diefer Bei-
gaben bietet Anhaltspunkte für die allgemeine Da-
tierung der I., wenn sie einer Zeitangabe entbehren;
die siebziger Jahre waren in Bezug auf diese Neue-
rungen von besonderer Bedeutung. Die Typen, die
anfangs, besonders in den sogenannten got. Arten,
gleich den Handschriften, ein stark individuelles Ge-
präge nach dem Geschmack des Schriftschneiders und
deshalb unter sich sehr große Verschiedenheiten auf-
weisen, entwickeln sich gegen Ende des 15. Jahrh, zu
einigen besonders beliebten Formen heraus, welche
von da an nur langsam und in geringem Maße
Änderungen erfahren. - Als Material zum Drucken
wurde sehr früh Papier, auf dessen Wasserzeichen
man bei undatierten Drucken jetzt zu achten an-
fängt, fast ausschließlich, wenigstens für den Haupt-
teil der Auflage, verwendet; nur für Bücher mit
unausgesetzt starkem Gebrauch, wie für grammati-
sche Lehrbücher (z. B. den "Donat" und das "V00
trinaw"), sowie für liturgische Bücher, die zugleich
repräsentativen Charakter hatten, kam Pergament
noch lange vorwiegend zur Anwendung. Lange
Zeit, und Zwar über das I. 1500 hinaus, wurde
das Papier wie früher das Pergament der Hand-
fchristen in Doppelblättern zu Lagen vereint und
demgemäß gedruckt. Anfangs scheint man Seite
für Seite, fpäter je 2 Seiten eines Doppelblattes
(in Folio) oder 4 Seiten (von 2 Doppelblättern in
Quart) in einer Form gesetzt und gedruckt zu haben.
Die Hohe der Auflage hielt sich wohl in der Regel
innerhalb der Grenze von 300 Exemplaren; man
zog es offenbar vor im Falle günstigen Absatzes
einen Neudruck zu veranstalten, als große Vorräte
auf Lager zu halten. - Der Text der I. wurde,
wenn es sich um einen ersten Druck (eäiuo pi-iucspZ)
handelte, natürlich aus Handschriften, fönst aller-
meist auf Grund gedruckter Ausgaben, etwa mit
Zuziehung einer Handschrift, abgedruckt. Gewöhn-
lich war das Verfahren sehr summarisch; einzelne
Drucker jedoch zeichneten sich durch sorgfältige Vor-
bereitung der Texte aus. Dagegen wurden während
des Druckes noch viele Korrekturen vorgenommen
und oft ganze Seiten und Blätter neu gedruckt.
Darauf beruhen die gerade in der Inkunabelzeit
häufigen Fälle von Paralleldrucken, welche, im gan-
zen übereinstimmend, nur in einzelnen Teilen von-
einander abweichen. Das erste gedruckte Druck-
fehlerverzeichnis schreibt man einem Baseler Drucke
des Verthold (Rodt von Hanau), "(^i-LForii U.
expositio in esoKum" (etwa 1468), zu. Sehr früh
sing man an, dem Gefchmacke der Zeit folgend,
welche an die Bilder der Holztafeldrucke und sog.
Blockbücher gewohnt war, die Drucke mit bildlichen
Darstellungen verschiedenen Umfanges, meist in
Holz-, aber auch in Metallschnitt, auszuschmücken,
und zwar um so mehr, als gerade Briesmaler und
Formschneider in großer Zahl sich damals dem
Druckergewerbe zuwandten. Das älteste Beispiel ist
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