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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Jesus

Erreichbarkeit auch der höchsten sittlich-religiösen Ziele und damit «des Reichs Gottes» auf Erden gesichert sei. Nicht in der Form einer Theorie, sondern als unmittelbare Darstellung dessen, was als innere Gewißheit und eigenste persönliche Erfahrung in dem Selbstbewußtsein Jesu thatsächlich gegeben war, enthält daher das Evangelium Jesu die Wahrheit, daß allein aus dem Frieden mit Gott die vollendete Sittlichkeit hervorgehen kann, während das Judentum umgekehrt die Werke als Bedingung des Friedens mit Gott betrachtete und das Heidentum sich diese Kardinalfrage der sittlichen Religion überhaupt noch nicht klar gestellt hatte. Der sprechendste Ausdruck des damit gegebenen Gottesbewußtseins ist das Wort «der himmlische Vater», das J. mit stillschweigender Beseitigung der alttestamentlichen Gottesnamen zur stehenden Benennung Gottes erhoben und dadurch in den Mittelpunkt der von ihm begründeten Art der Frömmigkeit gestellt hat. Wie dieses Wort das gleiche Gegründetsein alles menschlichen Lebens in der ewigen göttlichen Liebe hervorhebt, so bezeichnet es zugleich alle natürliche und sittliche Ordnung der Welt als von derselben Liebe getragen und alles den Menschen wahrhaft befriedigende Streben als allein in der Liebesgemeinschaft mit dem unendlichen Urquell des Lebens sich vollendend.

Daher ist entsprechend dem Vaternamen für Gott die Idee der Sohnschaft bei Jesu der höchste Ausdruck religiös-sittlicher Vollendung des Menschen. In welchem Sinne er auch den Namen «Menschensohn» auf seine Person angewendet haben mag, jedenfalls hängt derselbe eng mit dem Sohnesverhältnis zusammen, in dem er selbst zu dem himmlischen Vater stand und das er die Seinen nicht als ein metaphysisches Geheimnis seines eigenen Wesens, sondern als das rechte religiös-sittliche Verhältnis kennen lehrte, in das auch sie zu dem Vater treten könnten und sollten. Es ist darin sowohl die Idee der Versöhnung mit Gott als auch die Idee der Gottähnlichkeit ausgesprochen, als deren gemeinsame ideale Vollendung das volle, ungeteilte Leben des Gemüts in Gott erscheint. In der Lehre vom Gottesreich (oder wie es im ersten Evangelium meist heißt: vom Himmelreich) ist nun diese Sohnesidee als die Grundlage einer allumfassenden religiös-sittlichen Gemeinschaft entwickelt. Wie diese das notwendige Ergänzungsstück zur Vateridee, so ist das göttliche Reich die konkrete Form, in der die Gottessohnschaft unter den Menschen sich verwirklicht. Die Bedingung des Eintritts in dieses Reich ist das tiefinnerliche Gefühl der eigenen Ohnmacht und Hilfsbedürftigkeit des natürlichen und gegenüber dem göttlichen Gesetze sündhaften Menschen, die reine Empfänglichkeit für den Beistand von oben, die volle, ungeteilte, rückhaltlose Hingabe des ganzen Herzens an den göttlichen Willen und an das von Gottes Vaterhuld den Menschen dargebotene Heil. In diesem Reiche gilt nur die rein sittliche Gesinnung als solche, die nicht das Ihre sucht, die Sanftmut und Herzensreinheit, die Friedfertigkeit und der demütige Kindessinn, vor allem aber die Selbstverleugnung, die freudig bereit ist, alles dahinzugeben, wenn dieses Opfer im Dienste des Reichs gefordert wird. Dies ist die «Gerechtigkeit» des göttlichen Reichs, nach der die Menschen vor allem zu trachten haben. Dieses Reich schildert er in einer Reihe von herrlichen Gleichnissen, bald in seinem alle andern Güter unendlich übertreffenden ^[Spaltenwechsel] Werte, bald in seinem äußern und innern, die ganze Welt und das ganze Menschenleben nach allen seinen sittlichen Beziehungen hin umspannenden und durchdringenden Wachstum, bald wieder in seinen äußern, je nach der menschlichen Empfänglichkeit verschiedenen Erfolgen und seiner durch menschliche Sünde wohl zeitweilig getrübten, aber alles Böse in der Welt sicher ausscheidenden und bewältigenden Verwirklichung.

Auf der idealen Höhe dieses Standpunktes kommen alle jene äußern Unterschiede, die durch Abstammung und Geburt, Lebensstellung, Stand und Beruf unter den Menschen aufgerichtet sind, nicht in Betracht. Gerade die Geringen dieser Welt, die Armen und Verachteten sind am besten befähigt, in das Gottesreich einzutreten. In diesem Reiche sind alle gleich, Söhne des himmlischen Vaters, Brüder untereinander, keiner darf hier sich Herr oder Meister nennen oder über die andern sich erhöhen, sondern wer sich selbst erniedrigt, wird hier erhöht, und wer am meisten dient, gewinnt die höchsten Ehren. Früheres Eintreten und längeres Wirken begründet keinen höhern Lohn; der scheinbaren äußern Bereitwilligkeit, dem göttlichen Willen sich zu fügen, dem Tugendstolz und der heuchlerischen Frömmigkeit geht selbst der offenbare Ungehorsam noch voran: die selbstgerechten Pharisäer und Schriftgelehrten, die des Arztes nicht bedürfen, bleiben draußen, die Zöllner und Sünder, die Buße thun, finden Aufnahme. Gerade die Verlorenen zu suchen ist des himmlischen Vaters unablässige Sorge: den treulosen Arbeitern im Weinberge wird das Reich wieder entzogen werden, an die Stelle der geladenen Gäste, die zum Feste zu kommen verschmähten, werden Bettler und Krüppel von der Straße berufen; die letzten werden die ersten, die ersten die letzten sein.

Es ist zunächst der Gegensatz gegen die geistlichen Obern des israel. Volks mit ihrer Anmaßung, ihrer äußerlichen, nur zu oft in Heuchelei ausartenden Frömmigkeit, der überall durch diese Reden und Gleichnisse hindurchklingt. Ihnen gegenüber preist J. die Unmündigen und Einfältigen, die Armen und Geringen, die Zöllner und reuigen Sünderinnen selig. Aber in der Konsequenz dieses Gedankens lag überhaupt das Hinwegsehen über alle äußern Unterschiede, auch über den der Nationalität. Es gehört zwar zu den spätern Weiterbildungen der Überlieferung, wenn Jesu der ausdrückliche Auftrag an seine Jünger zur Heidenbekehrung oder die bestimmte Weissagung von dem förmlichen Übergange des Reichs von den als Volk verworfenen Juden zu den Heiden in den Mund gelegt wird; in manchem Gleichnisse, das in den Quellen schon unzweifelhaft diese Deutung erhalten hat, blickt vielmehr die ursprüngliche Beziehung auf rein innerjüd. Verhältnisse noch durch. Aber manche Erfahrung von dem überraschenden Glauben in der heidn. Welt und von dem beharrlichen Unglauben gerade der Angesehenen in Israel legte Jesu allmählich auch den Ausblick auf die Heidenwelt nahe, und im Anschluß an alttestamentliche Vorbilder und prophetische Aussprüche verkündigte er: Viele würden kommen von Morgen und von Abend, um im Reiche Gottes mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische zu sitzen.

Dennoch hat J. selbst mit seiner persönlichen Wirksamkeit und mit den unmittelbar seinen Jüngern gegebenen Weisungen sich nur an «die verlorenen Schafe des Hauses Israel» gewandt und