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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Jesus

ist nur gelegentlich und vorübergehend mit den Heiden in Berührung gekommen. Sein Lebensberuf wies ihn zunächst an das eigene Volk. War doch auch der ganze Anschauungskreis, in dem er herangewachsen, der des Alten Testaments. Alle jene Bilder, in denen sich seine Rede bewegt, selbst die charakteristischen Ausdrücke, in die er den Inhalt seines Evangeliums hineinlegt, sind dorther entnommen. Aber er hat sie aus den unerschöpflichen Tiefen seines Selbstbewußtseins heraus umgestaltet, vergeistigt, und alles, was darin den rein sittlichen Ideen, die ihn erfüllten, widersprach, stillschweigend beseitigt. In allen Anschauungen und Vorstellungen, die nicht unmittelbar den Mittelpunkt des religiösen Bewußtseins betrafen, ist er ein Sohn seines Volks und seiner Zeit. Wie er die Vorstellungen von Engeln und Dämonen teilte, wie er selbst die Zukunft des von ihm gegründeten Reichs nur unter alttestamentlichen Bildern sich veranschaulichte und, als ihm die Notwendigkeit seines Todes gewiß geworden, ohne alle Schwärmerei seine persönliche Wiederkunft erwarten konnte, so ist ihm auch das Alte Testament selbst unzweifelhaft göttlichen Ursprungs und göttlicher Autorität, und er wollte, was es lehrte und vorschrieb, nicht abschaffen, sondern nur besser verstehen lehren. Hierdurch bestimmt sich auch seine Stellung zum mosaischen Gesetz. Seine Polemik gilt niemals diesem selbst, sondern nur seiner Auffassung als einer äußern Rechtsnorm und der beengenden und äußerlichen Auslegungsweise der Gesetzeslehrer; ausdrücklich und feierlich lehnt er die Unterstellung ab, als sei er gekommen es aufzulösen. Er will das Gesetz erfüllen, indem er seine Forderungen statt auf die äußere That auf die innere Gesinnung bezieht; ohne ängstlich am Buchstaben zu hängen, dringt er überall auf seinen sittlichen Geist und lehrt, um es recht zu halten, alle Konsequenzen ziehen, die darin liegen. Aber gerade dadurch hat er es hinausgehoben über sich selbst: was im Gesetze wohl auch enthalten war, aber oft nur andeutungsweise neben und hinter einer Masse sittlich wertloser Vorschriften, das hat er in den Mittelpunkt gerückt und damit das Gesetz nicht bloß «erfüllt», sondern «vollendet».

Ähnlich wie sein Verhältnis zum Alten Testament überhaupt, ist auch seine Stellung zur alttestamentlichen Messiasidee. Dieselbe bot sich ganz von selbst seinem Bewußtsein dar als volkstümlicher Ausdruck dessen, was in seinem Innern lebte. Wie die nationaljüd. Idee des Gottesreichs, so hat er auch den Messiasglauben vergeistigt und verklärt. Es war die thatsächliche Erfahrung seines persönlichen Sohnesverhältnisses zu Gott im rein sittlich-religiösen Sinne des Wortes, die ihm nicht nur die Idee der allgemeinen Sohnschaft aller Frommen überhaupt, sondern vor allem die übergreifende Erhabenheit seines eigenen Selbstbewußtseins, gegenüber allem, was er von Äußerungen des religiösen Lebens um sich her wahrnahm, zur Gewißheit erhob. Hiermit zugleich erwachte der Drang, mitzuteilen, was in ihm war, zu retten, zu helfen und zum Vater zu rufen, wo immer er konnte, das schon anbrechende Reich Gottes zu predigen. Die durch sein persönliches Wirken eintretende Notwendigkeit eines persönlichen Mittelpunktes für die sich gestaltende Gemeinde von Gotteskindern entlockte ihm ganz von selbst das bezeichnende Wort, durch das er sich selbst und den Seinen wie dem ganzen Volke die Stellung seiner Person zu der Reichsgemeinde ^[Spaltenwechsel] Gottes verständlich machen konnte. Aus dem Bewußtsein seiner Gottessohnschaft erzeugte sich ihm unvermeidlich das Bewußtsein seines Messiasberufs als die ihm allein mögliche Vorstellungsform für das, was er war und was er eben darum wollte und wollen mußte. So nahm er das Bekenntnis seiner Jünger zu ihm als dem Messias hin, da es zum erstenmal sich äußerte, wie überrascht über den wunderbar treffenden Einblick in das Geheimnis seines Innern, als eine unmittelbare Offenbarung des Vaters im Himmel, danach als notwendige Bedingung des Eintritts in die Gemeinschaft, von der er thatsächlich der Mittelpunkt war. Zuletzt tritt er offen vor allem Volke, ja mit absichtlicher Anlehnung an alttestamentliche Vorbilder als der Messias auf und bleibt, im festen Vertrauen auf den Beistand des Vaters, bei dem Bekenntnis seines Messiasberufs, auch der obersten geistlichen Behörde in Jerusalem gegenüber, die ihn, wie er voraus wußte, dafür als Gotteslästerer in den Tod schickte. Er ist seiner Sache so unerschütterlich gewiß, daß er freudig auch Leiden und Schmach, ja den Verbrechertod am Kreuze auf sich nimmt; der Vater, dessen Reich zu verkünden er gekommen ist, wird ihn, das muß er erwarten, um die Sache dieses Reichs hinauszuführen, auch von den Toten erwecken und herrlich zurückführen.

Gegenüber der unerschöpflichen Größe dieses Selbstbewußtseins, die in sich selbst die Bürgschaft trägt für die bleibend grundlegende Bedeutung seiner Person auf jede erdenkliche Zukunft der religiösen Entwicklung der Menschheit hinaus, wäre es kleinlich, über etwas mehr oder weniger von äußern biogr. Nachrichten über seine Schicksale und Thaten sich zu ereifern. Dieses Selbstbewußtsein ist kein Mythus, möchten noch so viele Einzelheiten seines Lebens in mythischen Nebel gehüllt oder durch die lehrhafte Dichtung in der Gemeinde hinzugethan sein. Auch diese Mythen und Dichtungen selbst sind in ihrer Schönheit nur der Reflex eines Lebens, das weit reicher und größer war, als es die fromme Phantasie jemals sich ausmalen kann.

Der äußere Rahmen seiner Lebensgeschichte bezeichnet fast nur die Stelle, wo er auftrat, um den Geschicken der Menschheit neue Bahnen zu weisen. Ein armer Zimmermannssohn aus Nazareth, unter dürftigen Umständen aufgewachsen, lebt er in stiller Verborgenheit, bis der Geist in ihm ihn erst zum Taufwasser im Jordan, dann zum einsamen Nachdenken in die Wüste, endlich mitten in das Gewühl des Lebens hineinführt. In den volkreichen Umgebungen des Galiläischen Sees tritt er mit der Botschaft vom Gottesreiche auf. Verhältnismäßig kurze Zeit, vielleicht nicht viel länger als ein Jahr, zieht er heilend und lehrend umher, zuerst in den Städten am See, danach, als er hier wenig Glauben findet, im ganzen Lande Galiläa bis zu den Grenzen Phöniziens und Samariens hin und erregt bei seinem ersten Auftreten eine sturmartige Bewegung der Geister, bald immer heftiger angefeindet von den geistlichen Führern des Volks, gegen die er die schärfsten Pfeile seiner Rede richtet, von den wankelmütigen Volksmassen jetzt angestaunt und umlagert, jetzt wieder verlassen, vergessen oder verfolgt. Nur ein kleiner Kreis umgiebt ihn, seine Jünger, denen es vergönnt war, tief in sein Inneres zu blicken, und die in guten und bösen Tagen treu zu ihm hielten. Endlich, als die Entscheidung naht, sucht er diese selbst am Sitze der theokratischen Macht