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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Musik

ihnen die Spanier. Dann aber erhob sich Italien selbst in Palestrina und brachte den mehrstimmigen Kirchengesang zur Vollendung, im Wetteifer mit zahlreichen großen Meistern, unter denen Orlandus Lassus besonders hervorragt. In dieser ganzen Zeit war der Kampf zwischen weltlicher und geistlicher M. der treibende Faktor. Das Weltliche wurde endlich durch das Kirchliche besiegt, zuerst in der Umwandlung des weltlichen Gesangs in Choralmelodien durch die Reformatoren und sodann in der Vollendung des kirchlichen Chorgesangs durch Palestrina und seine Zeitgenossen.

Zu Palestrinas Zeit wurde der mehrstimmige Gesang auch im weltlichen Liede mit einer gewissen Einseitigkeit gepflegt. Dem entgegen tauchten Bestrebungen auf, welche die Wiedererweckung des Einzelgesangs in altgriech. Art und Wirkung bezweckten und schon um 1600 so tiefe Wurzeln gefaßt hatten, daß in Florenz die ersten Opern ("Dafne" und "Euridice" von Peri) und in Rom das erste Oratorium ("L'anima e corpo" von E. del Cavaliere) aufgeführt werden konnten. Hiermit waren die beiden größten Formen der Tonkunst ins Leben gerufen und auf die Bahn der Entwicklung gestellt, die sie in unaufhaltsamem, durch eine unendliche Fülle von Werken bezeichnetem Lauf in kaum zwei Jahrhunderten bis zum Ziel hin zurücklegten, und zwar besonders seit 1637, als das erste ständige Operntheater in Venedig errichtet wurde und Carissimi in Rom zur selben Zeit die eigentlichen musikalischen Grundlagen des Oratoriums und der Konzertmusik legte. Die Höhepunkte bilden Händel im Oratorium und Mozart in der Oper, zwei Deutsche, deren Werk aber nicht möglich war und nicht verstanden werden kann ohne das, was ihre Vorgänger unter Beteiligung der Hauptnationen Europas geleistet haben. Die gesamte M. in ihrer modernen Richtung vom Beginn des 17. Jahrh. an wurde zunächst fast ausschließlich gepflegt von ihren Schöpfern, den Italienern. Der Hauptort im17. Jahrh. für die Oper war Venedig, wo Monteverdi den Grund gelegt hatte und Cavalli weiter baute, der für das Oratorium Rom. Im 18. Jahrh. gewann Neapel den Vorrang, hauptsächlich infolge der Wirksamkeit des fruchtbaren Alessandro Scarlatti. Auch in der Instrumentalmusik wurde Italien tonangebend durch den Organisten Frescobaldi, den Violinisten Corelli und viele andere. Ital. Oper, Gesangskunst, Instrumentenbau und Instrumentenspiel verbreiteten sich jetzt über alle Länder, namentlich über das prot. Mittel- und Norddeutschland, England, Frankreich und Österreich mit Süddeutschland.

Das prot. Nord- und Mitteldeutschland, das um die Mitte des 17. Jahrh. in Heinrich Schütz einen angesehenen Meister hervorgebracht hatte, fand seit1678 einen musikalischen Mittelpunkt in der Hamburger Oper, an der Reinhard Keiser, Mattheson, Telemann und andere bedeutende Musiker wirkten.

Selbständig entwickelte sich das Orgel- und Klavierspiel durch viele gediegene Meister und fand seinen Höhepunkt in J. S. Bach, der direkt und durch die Wirksamkeit seiner Söhne und Schüler auf die folgende Entwicklung einen bedeutenden Einfluß ausgeübt hat. Auch die Vokalmusik der deutschen evang. Kirche dieser Zeit weist eine Reihe großer Werke auf; nur haben diese durch Anlehnung an die Formen der Oper sich dem Kultus oder der Kirche entfremdet, ohne zu der rein kunstmäßigen Abgeschlossenheit des Oratoriums durchzudringen. Einen ähnlichen Mangel hat die deutsche Oper dieser Periode; um die Mitte des 18. Jahrh., zur Blütezeit Hasses und Grauns, wurde sie überall in ital. Sprache gesungen.

Ebenso großen Einfluß hatten die Italiener in England, wo die engl. Oper unter Purcell und andern nationalen Komponisten auf die Dauer sich nicht als lebensfähig erwies, aber später die zum größten Teil aus Volksliedern zusammengesetzte Balladenoper (Ballad-opera) hervorbrachte, durch deren Anregung das deutsche Sing- oder Liederspiel entstand. Die ital. Oper beschränkte sich hier auf London, und in ihrer glänzendsten Zeit (1710-40) sind ihre Schicksale eng verflochten mit dem Leben Händels, der durch sie den Weg nahm zum Oratorium, das er aus der unvollkommenen Gestalt seiner Vorgänger plötzlich zur Vollendung erhob. Die wertvollsten Eigentümlichkeiten der englischen M., die Kraft des Accents, vollwichtige Melodie und der rein musikalische (aber nicht dramat.-theatralische) Sinn, sind in Händels M. mit deutscher Tiefe und ital. Formfülle vereinigt. Frankreich war das einzige Land, das die ital. Oper nachzuahmen wußte, ohne ihr Sklave zu werden, nämlich durch völlige Einbürgerung. Ein Ausländer, der Italiener Lully, wurde der Gründer der franz. Oper. Was er in der zweiten Hälfte des 17. Jahrh. gestaltet hatte, baute Rameau in der Mitte des 18. weiter aus und vollendete der Deutsche Gluck einige Jahrzehnte später. Die französische M. hat eine stark ausgeprägte Eigentümlichkeit, und wenn auch in der rhetorischen Neigung der Sprache und in der Gewandtheit der dramat.-theatralischen Aktion der italienischen verwandt, ist sie doch in allen wesentlichen Punkten ihr wahrer Gegensatz. Accent und Rhythmus sind im Französischen heftig, bestimmt und leicht, nicht im Tonstrom verschwimmend, wie im Italienischen, die melodischen Formen sind kurz und knapp, die harmonisch-kontrapunktischen im Vergleich zu den italienischen und deutschen unentwickelt, das Ganze mehr auf das Charakteristische als auf das Schöne gerichtet. Daher ist die französische M. vorzüglich für die Bühne geeignet; in den rein musikalischen Arten, den oratorischen und instrumentalen, ist sie von geringer Bedeutung.

In Österreich (Wien) und Süddeutschland bürgerten sich Oper und Oratorium früh ein, hielten sich aber in den Grenzen der ital. Sprache und Musikformen. Eine Erweiterung des überkommenen wurde dagegen auf dem Felde der Instrumentalmusik geschaffen, auf dem sich hier und in Süddeutschland bis an den Rhein hin ein durchaus freier Geist immer mehr geltend machte, der zuerst in Joseph Haydn zu wahrer Kunstgröße gelangte. Glucks glänzende Versuche an der Italienischen Oper in Wien leiteten auf die herrlichen Schöpfungen Mozarts, die das von Gluck Erstrebte musikalisch vertieften, das von Haydn Erreichte weiter führten, die ital. Oper (die mit komischen Elementen gemischt war) vollendeten und durch Vollendung überwanden, womit zugleich der deutschen Oper eine neue Bahn gebrochen wurde. Der Geist dieser Epoche fand in Beethovens Instrumentalmusik seinen höchsten Ausdruck.

Die M. der neuesten Zeit hat wesentlich an Ausdrucksmitteln gewonnen, teils durch hervorragende Fortschritte im Instrumentenbau, teils durch die auf dem Begriff des Programms beruhende gesteigerte Erfindung bedeutender Komponisten. Zu diesen zählen in erster Reihe der Franzose Berlioz, der Ungar Liszt und der Deutsche Rich. Wagner, der den deklamatorischen Stil in ungeahnter Weise ausbildete