262
Neuenburg (Kanton)
1890/91 wurden in den drei Fischzuchtanstalten des Kantons 316768 Eier von Seeforellen eingesetzt. Der Bergbau liefert vorzügliche Bausteine (Kalk) und im Val-de-Travers Asphalt und Cement.
Industrie, Handel. Die Industrie ist blühend und ernährt 54 Proz. der Bevölkerung. 1888 bestanden 69 Fabriken, darunter 65 mit Motoren (1368 Wasser-, 628 Dampfpferdestärken), mit 3110 (2310 männl., 800 weibl.) Arbeitern, darunter 197 (137 männl., 70 weibl.) unter 18 Jahren. 7 Brauereien brauten (1892) 31436 hl Bier. Neben der Uhrenindustrie, die im Kanton N. etwa 16000 Arbeiter beschäftigt und ihren Hauptsitz in La Chaux-de-Fonds und Le Locle hat, verdienen die Fabrikation von Schokolade, Liqueur, Cement, elektrischen Apparaten und Telegraphenkabeln Erwähnung. Der Handel wird unterstützt durch treffliche Straßen.
Verfassung und Verwaltung. Die Verfassung (vom 21. Nov. 1858, später abgeändert) ist repräsentativ-demokratisch, jedoch mit fakultativem Referendum (seit 28. bis 29. Juni 1879) und Volksinitiative auf das Begehren von 3000 Stimmfähigen. Der Große Rat (Grand Conseil), auf drei Jahre direkt vom Volke gewählt, zählt je ein Mitglied auf 1000 Seelen; er erläßt Gesetze, beschließt Steuern, überwacht die Verwaltung und das Budget. Die Exekutive übt der Staatsrat (Conseil d'État) aus; er besteht aus 5 Mitgliedern, die vom Großen Rate auf drei Jahre gewählt werden. Er verwaltet die Staatsgeschäfte, überwacht die Justizpflege und legt dem Großen Rate jährlich Rechnung ab; ferner hat er die Aufsicht über die Geistlichkeit, das öffentliche Unterrichtswesen und die Verwaltung der Gemeindegüter. Außer 18 Friedensrichterämtern und 3 industriellen Schiedsgerichten für Streitigkeiten zwischen Arbeitern und Arbeitgebern bestehen 6 Bezirksgerichte und als höchste Instanz ein Appellationshof in N., der in Kriminalsachen die Befugnisse eines Kassationshofs besitzt. Zur Behandlung von Kriminalfällen und polit. Vergehen wird eine Jury errichtet. Der Kanton sendet in den Nationalrat 5, in den Ständerat 2 Mitglieder. Die Staatseinnahmen beliefen sich (1893) auf 3,199, die Ausgaben auf 3,213, die Staatsschuld auf 15,789 und das Staatsvermögen auf 4,125 Mill. Frs. In militär. Hinsicht gehört der Kanton zum Stammbezirk der 2. Division. Das Wappen ist (seit 1848) ein von grün, weiß und rot senkrecht geteilter Schild mit weißem Kreuze im roten Felde.
Kirchen- und Bildungswesen. Die kirchliche Einteilung entspricht der administrativen. Geistliche Körperschaften, die von der souveränen Macht unabhängig sind, erkennt die Verfassung nicht an; ohne Genehmigung des Großen Rates darf sich keine religiöse Korporation im Kanton niederlassen. Die Güter und das Einkommen der Kirche werden mit dem Vermögen des Staates, der die kirchlichen Beamten besoldet, verschmolzen. Die Reformierten teilen sich in die Landeskirche (église nationale) und in die Freie Kirche (église libre), die Katholiken stehen unter dem Bischof von Lausanne. 1893 bestanden in 64 Gemeinden 406 Primärschulen, 68 Kleinkinderschulen, 5 gewerbliche Sekundärschulen (école secondaires industrielles), 3 gewöhnliche Sekundärschulen, 1 höhere Mädchenschule; ferner 1 unteres Gymnasium (collège classique), 1 oberes Gymnasium mit litterar. und realer Abteilung (gymnase cantonal, section littéraire et section scientifique). Den Hochschulunterricht vertritt die Akademie in der Hauptstadt, 2 staatliche und 1 privates Lehrerseminar. Dem gewerblichen Unterricht dienen 5 Uhrmacherschulen, 1 Kunstgewerbeschule, 2 Handelsschulen, 1 landwirtschaftliche, 1 Weinbauschule sowie 4 Gewerbeschulen (écoles d'einseignement professionnel).
Geschichte. Wie die Pfahlbauten im See beweisen, war N. schon vor der Römerzeit besiedelt; es geriet mit dem übrigen Helvetien unter röm., dann 534 unter fränk. Herrschaft; im 9. Jahrh, kam es an das burgund. Königreich, mit dem es 1032 an das Deutsche Reich fiel. Nach dem Erlöschen des alten Grafengeschlechts von N. und Valangin kam das Land an das Haus Châlons, dann an das von Freiburg, von Hochberg (1457) und 1504 an die Herzöge von Orléans-Longueville. Schon seit 1406 mit Bern verbündet, nahm N. an den Burgunderkriegen ruhmvollen Anteil. Da es im Anfange des 16. Jahrh. durch das Haus Longueville zu Frankreich hielt, wurde es 1512 von den Eidgenossen erobert und erst 1529 zurückgegeben. Bald hernach führte es 1530 unter dem Einfluß Berns die Reformation ein, die namentlich durch Wilhelm Farel (s. d.) gepredigt wurde. Als 1707 das Haus Longueville mit der Herzogin von Nemours, Marie von Orleans, erlosch, wurde im Gegensatz zu dem Einfluß Frankreichs unter 15 Prätendenten König Friedrich I. von Preußen, der als Sohn der oranischen Prinzessin Luise nächster Erbe der Ansprüche des Hauses Oranien war, von den Ständen des Fürstentums zur Herrschaft berufen und die darauf erfolgte Besitzergreifung im Utrechter Frieden bestätigt. 1806 mußte das Fürstentum an Frankreich abgetreten werden, worauf Napoleon I. den Marschall Berthier (s. d.) als souveränen Fürsten damit belehnte. Im Pariser Frieden von 1814 wurde N. vergrößert an den König von Preußen zurückgegeben, der dem Lande 18. Juni eine der Genfer ähnliche Charte constitutionnelle gab und es als einen für sich bestehenden, von der preuß. Monarchie ganz getrennten Staat erklärte. Hierauf erfolgte 11. Sept. 1814 die Aufnahme N.s als 21. Kanton in die Eidgenossenschaft. Mit dieser durch alte Bündnisse und gemeinsame Interessen weit enger verknüpft als mit dem fernen Herrscherhause, und von letzterm allzu weit entfernt, befand sich N. in einer auf die Dauer unhaltbaren Doppelstellung. Zwar mißlang 1831 der Versuch der republikanischen Partei, N. durch Revolution von der preuß. Herrschaft freizumachen; aber durch eingewanderte deutsche Schweizer verstärkt, gewann die Partei in den nächsten Jahrzehnten die Mehrheit des Volkes für sich, während die Regierung streng konservativ blieb und sogar 1847 im Sonderbundskrieg sich weigerte, das bundesgemäße Kontingent zur eidgenössischen Armee zu stellen. Am 1. März 1848 wurde durch eine bewaffnete Demonstration der Staatsrat zur Abdankung genötigt, worauf eine provisorische Regierung die Abschaffung der Monarchie und die Einführung der Republik erklärte. Ein Verfassungsrat entwarf sodann im Geiste der repräsentativen Demokratie eine neue, vom Volke (30. April) genehmigte und von der Eidgenossenschaft gewährleistete republikanische Verfassung. Der König von Preußen protestierte wiederholt gegen die einseitige Aufhebung seiner Rechte, und auch ein 24. Mai 1852 bei der Londoner Konferenz von sämtlichen Großmächten unterzeichnetes Protokoll erkannte auf Grund der Verträge von 1815 das Recht des Königs auf N. sowie auf Wiederherstel-^[folgende Seite]