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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Preußen (Geschichte 1888 bis zur Gegenwart)

des Verhältnisses zwischen Arbeitern und Arbeitgebern. In kürzester Frist wurde der preuß. Staatsrat zum 14. Febr. einberufen zu einer ersten Beratung dieser Fragen, die dann einer vom 15. bis 29. März versammelten internationalen Arbeiterschutzkonferenz (s. d.) vorgelegt wurden. Während derselben vollzog sich (20. März) der Rücktritt des Fürsten Bismarck von seinen sämtlichen Reichs- und Staatsämtern. Sein Nachfolger wurde von Caprivi.

Jetzt kam nun auch die 1889 ins Stocken geratene Frage der Steuerreform in P. wieder in Fluß. Der Finanzminister von Scholz trat im Juni 1890 zurück, und die Wahl des Kaisers fiel auf den nationalliberalen Parteiführer und Oberbürgermeister von Frankfurt a. M., Miquel. Dieser begann sofort neue Vorarbeiten zu einer durchgreifenden Reform des gesamten Steuerwesens mit dem Ziel einer stärkern Heranziehung der größern Einkommen und des Großkapitals, einer Entlastung der kleinen Einkommen wie des Grundbesitzes, und einer zweckmäßigern Teilung der Steuern zwischen Staat und Selbstverwaltungskörpern. Seine schon im Herbst 1890 eingebrachten Vorlagen über eine neue Einkommensteuer (s. d.) mit Einführung der Deklarationspflicht, eine Reform der Erbschafts- und Gewerbesteuer erhielten 1891 Gesetzeskraft. Für die untern Stufen wurde der Prozentsatz der Steuern gegen früher ermäßigt, für die Einkommen über 100000 M. von 3 auf 4 Proz. erhöht. Dadurch und durch die gleichzeitig eingeführte Besteuerung der Aktiengesellschaften wurde eine Mehreinnahme von 40 Mill. erreicht. 1893 trat hinzu das Gesetz über die Vermögenssteuer, das die Staatseinkünfte um 35 Mill. steigerte. Ferner wurden den Kreisen die Zuschüsse, die ihnen bisher auf Grund der sog. Lex Huene von 1885 aus den Reichszöllen zuflossen und infolge ihres starken Schwankens die Finanzwirtschaft der Kreise und Gemeinden sehr erschwerten, entzogen. Dafür verzichtete nun der Staat auf die gesamte Grund-, Gebäude-, Gewerbe- und Bergwerksteuer (zusammen 100 Mill.) zu Gunsten der Gemeinden. Für den ländlichen Grundbesitz bedeutete diese, vom 1. April 1895 ab in Kraft tretende Neuerung eine wesentliche Entlastung.

Durch diese Steuerreform mußte sich die Zusammensetzung der drei Urwählerklassen für die Wahlen zum Landtage, deren Einteilung die direkten Steuerleistungen zu Grunde lagen, zu Gunsten der Wohlhabenden stark verschieben. Die Regierung wollte durch eine Gesetzvorlage 1893 diese Verschiebung mildern. Das Abgeordnetenhaus, in dem das Centrum besonders im Interesse seiner Wählerschaften gegen die plutokratische Verschiebung war, trat dem entschieden bei; aber das Herrenhaus beseitigte die Zusätze des Abgeordnetenhauses und schwächte das Gesetz (erlassen 29. Juni 1893) noch etwas ab. Bei den Neuwahlen vom 7. Nov. 1893 ergab sich ein Zuwachs der Konservativen um 12 Mandate (146 gegen 134) und eine Schwächung der beiden freisinnigen Parteien um 10 Mandate (20, früher 30); die übrigen Parteien bewahrten ungefähr ihren Stand (95 Centrum, 90 Nationalliberale, 63 Freikonservative, 17 Polen, 2 Dänen), so daß das Übergewicht der Konservativen, die sowohl mit den Mittelparteien wie mit dem Centrum die Mehrheit bilden konnten, noch verstärkt wurde.

Das preuß. Staatsgebiet wurde in diesem Zeitraum durch die Einverleibung von Helgoland (19. Dez. 1890) vergrößert.

Schon 1890 hatte der Kultusminister von Goßler einen Volksschulgesetzentwurf vorgelegt, der zwar den konfessionellen Charakter der Volksschule anerkannte, aber den Einfluß des Staates auf die Lehrerschaft und den Religionsunterricht festlegte und darum vom Centrum heftig bekämpft wurde. Nach dem Rücktritt Goßlers (März 1891) ließ sein Nachfolger, Graf Zedlitz-Trützschler, den Goßlerschen Entwurf fallen und legte einen eigenen vor (Jan. 1892), der durch seine Zugeständnisse an die Kirche in Bezug auf Überwachung des Religionsunterrichts, Beschränkung der Simultanschulen und Lehrerprüfungen sich die ebenso lebhaften Sympathien der konservativ-ultramontanen Mehrheit, wie die Antipathien der Freikonservativen und liberalen Parteien zuzog. Letztere befürchteten einen verhängnisvollen Zwang in Glaubenssachen, eine Stärkung des kath. Klerus wie der orthodoxen Elemente in der evang. Kirche und betrieben auch im Lande eine überaus lebhafte Agitation gegen das Gesetz. Schließlich gab des Kaisers Erklärung im Kronrate vom 17. März 1892, daß das Gesetz nur mit Zustimmung der Mittelparteien zu stande kommen dürfe, die Entscheidung. Graf Zedlitz nahm seine Entlassung, und sein Nachfolger Bosse zog den Entwurf zurück. Das Vertrauen auf die Regierung, die ein solches Gesetz zuerst warm empfohlen und dann preisgegeben hatte, war nun aber auch bei den Parteien, die den Sieg erfochten hatten, stark erschüttert. Der Vorgang erschien charakteristisch für die innere Klarheit und Festigkeit des "neuen Kurses".

Caprivi hatte ebenfalls aus diesem Anlaß 18. März 1892 seine Entlassung aus seinen Reichs- und Staatsämtern nachgesucht, doch wurde er nur von seinem Amte als preuß. Ministerpräsident entbunden und dieses dem bisherigen Oberpräsidenten von Hessen-Nassau, früherm Minister Grafen von Eulenburg, übertragen. Da der Minister des Innern, Herrfurth, bald wegen seiner Meinungsverschiedenheit in der Frage der Steuerreform zurücktrat (Aug. 1892), so konnte dessen Amt nun auch an den Grafen Eulenburg wieder übergehen. An Herrfurths Namen knüpft sich das wichtige Gesetz der Landgemeindeordnung, für die östl. Provinzen vom 3. Juli 1891. Alte Pläne aus der Zeit der Stein-Hardenbergschen Reform wurden damit den modernen Bedürfnissen entsprechend durchgeführt. Eine Hauptabsicht des Gesetzes war, neben einer Ausdehnung der Rechte der Nichtangesessenen, die Schaffung leistungsfähiger Verbände mehrerer Gemeinden und Gutsbezirke für Zwecke, denen einzelne, oft zwergenhaft kleine Gemeinden bisher nicht genügen konnten. (S. Gemeinderecht.)

Die Kämpfe der socialen und wirtschaftlichen Interessen von Kapitalismus und Proletariat einerseits, Landwirtschaft und städtischer Bevölkerung andererseits wirkten auch auf die preuß. Gesetzgebung ein. Das Gesetz über die Ausdehnung der Rentengüter auf die ganze Monarchie vom 27. Juni 1890 und über die Mithilfe der Rentenbanken dabei (vom 7. Juli 1891) wollte die von allen staatserhaltenden Parteien gewünschte Vermehrung des Kleingrundbesitzerstandes und die Seßhaftmachung der ländlichen Arbeiter befördern. Den Klagen der Landwirtschaft, die sich durch die neuen Handelsverträge von 1891 und 1894 geschädigt sah und durch den 1893 gestifteten Bund der Landwirte eine überaus lebhafte Agitation gegen die Regierung entfaltete, sollte in etwas abgeholfen werden durch