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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Protestantismus

als neues Dogma ein und sah als Lehrnorm nicht mehr die Kirche, sondern die Heilige Schrift an. Diese wurde von Anfang bis Ende unmittelbar als Gottes Wort, also alles in ihr Enthaltene als unantastbare Wahrheit betrachtet, ein Standpunkt, dessen Inkonsequenz allerdings den kath. Gegnern mehr als einen Angriffspunkt bot. Denn nicht nur gelangte man so zu einer neuen kirchlichen Lehrtradition, die, in den Bekenntnisschriften niedergelegt, als schlechthin verbindliche Auflegung der Schriftlehre galt; sondern durch die Rechtfertigungslehre war auch eine weit durchgreifendere Neugestaltung der altkirchlichen Lehrartikel geboten, als man sie damals wagte. Indessen war dieser dogmatische P. mit seiner "reinen Lehre", mit seinen theol. "Kontroversen" und mit seiner Vergötterung des Bibelbuchstabens nur die erste und für die Zeit seiner Entstehung einzig mögliche Weise, in der das neue, in der Reformation zum Durchbruch gekommene Princip sich Geltung verschaffte. Später hat dann Georg Calixtus gegenüber der scholastischen Spitzfindigkeit, die überall bei andern Kirchen fundamentale Abirrungen von der "luth. Wahrheit" sah, das Gemeinsame in allen christl. Konfessionen betont, der Pietismus an die Stelle dogmatisch-kirchlicher Lehrkorrektheit die persönliche Herzensfrömmigkeit der Einzelnen gesetzt, die Leibniz-Wolfsche Schule das Recht des Verstandes im Christentum und die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Begründung der kirchlichen Glaubensartikel vertreten.

Allmählich hatte sich die allgemeine Bildung und Wissenschaft immer mehr von der kirchlichen Bevormundung befreit und im sog. Aufklärungszeitalter zu Ergebnissen geführt, die mit dem ganzen dogmatischen Christentum zugleich die bisher von allen Kirchenparteien festgehaltene Meinung von seiner übernatürlichen Entstehung erschütterten. Der Rationalismus (s. d.) lenkte diese geistige Strömung mitten hinein in die prot. Theologie, indem er vom sog. positiven Christentum nur die moralischen Wahrheiten stehen ließ, die Wunder aber möglichst durch natürliche Deutung beseitigte. Ihm gegenüber suchte der Supranaturalismus wenigstens den Wunderglauben mühsam zu retten, während er von dem altprot. Dogma ein Stück nach dem andern preisgab. Das Werk des Rationalismus führte sodann die neuere Philosophie durch Kant, Fichte und Hegel weiter. Aus ihren Arbeiten ging die moderne Weltanschauung hervor, die alles natürliche und geistige Geschehen, statt auf einen außerordentlichen Machtwillen, auf die der Welt innewohnende vernünftige Gesetzmäßigkeit zurückführte und folgerichtig mit dem Gottesbegriffe auch die Vorstellungen von Religion, Offenbarung u. s. w. wesentlich umgestaltete. Der Gefahr, mit der unrettbar verlorenen Form auch den lebendigen Gehalt des christl. Heilsbewußtseins zu verlieren, trat Schleiermacher mit seinen Untersuchungen über das Wesen der Religion und seiner Neugestaltung der Dogmatik aus dem frommen Bewußtsein der Christen heraus, aber mit den Mitteln der modernen Wissenschaft und im Geiste der freiesten, durch keine dogmatische Fessel gebundenen Forschung gegenüber und begründete so als der erste eine den wissenschaftlichen und künstlerischen Tendenzen des 19. Jahrh. vollkommen ebenbürtig zur Seite tretende, ebenso prot. als evang. Theologie. Dennoch führte die Neubelebung der christl. Frömmigkeit zunächst zu einer Wiederholung der ältern Vorstellungsformen, die zuerst im neuerwachten Pietismus die philos. und die histor. Kritik, danach in der durch die polit. Reaktion ermutigten neu-alten Orthodoxie jede Abweichung vom Buchstaben der Schrift und des altkirchlichen Bekenntnisses proskribierte. Dagegen arbeitet die freie prot. Theologie der Gegenwart an der Aufgabe, in Schleiermachers Bahnen eine tiefere Versöhnung des Christentums mit der modernen Kultur zu gewinnen. Der prot. Charakter dieser Richtung erweist sich im allgemeinen in dem Streben, das reine Wesen des Christentums im Unterschied von jeder unfreien Gebundenheit an irgend welche geschichtliche Erscheinungsform desselben immer lauterer auszumitteln, also einerseits seinen ewigen religiösen und sittlichen Gehalt in den wechselnden Formen herauszufinden, andererseits durch fortgesetzte sorgfältige Forschung über die geschichtlichen Ursprünge des Christentums überhaupt und der prot. Kirche insbesondere eine wirklich geschichtliche Auffassung derselben zu ermöglichen. In letzterer Beziehung sind namentlich die Schriften von Strauß, Ferdinand Christian Baur und der Tübinger Schule, ferner von Credner, Holtzmann, Keim, Hausrath, Holsten u. a., in ersterer die von Hase, Rothe, Schenkel, Alex. Schweizer, Biedermann, Lipsius, Pfleiderer u. a. zu nennen, während Ritschl und seine Schüler eine eigentümliche Mischung von rationalistischer und offenbarungsgläubiger Richtung vertreten.

Was die äußere kirchliche Gestaltung des P. anbelangt, so findet sich von Anfang an eine große Mannigfaltigkeit nicht nur von Kultus- und Verfassungsformen, sondern auch von Gestaltungen des dogmatischen Lehrbegriffs. Der bedeutendste dieser Unterschiede, der bereits in der Reformationszeit hervortrat, ist der zwischen den Lutheranern (s. d.) und Reformierten. Derselbe ruht nicht sowohl auf principieller Differenz, als vielmehr auf einer verschiedenartigen Ausprägung des prot. Grundprincips. Indessen hat sich trotz der kirchlichen Trennung im Laufe der Zeit eine so durchgreifende Mischung reform. und luth. Elemente vollzogen, daß die ursprünglichen Unterschiede erst durch die gelehrte Forschung der Gegenwart klar erkannt und in ihre feinern Beziehungen verfolgt werden konnten. Die Union (s. d.) beider Kirchen, die sich im 19. Jahrh. zuerst in Preußen, danach auch in einigen kleinern Staaten vollzog, war daher nicht bloß durch die Indifferenz der Zeit, sondern durch die kirchliche und theol. Entwicklung selbst veranlaßt. Außerhalb Deutschlands hat namentlich der reformierte P. eine große Mannigfaltigkeit von kleinern Kirchenparteien erzeugt, besonders in England und in den Vereinigten Staaten von Amerika. Nährend die lebendige geschichtliche Entwicklung des P. ihre eigentliche Heimat in Deutschland, in der Schweiz und in den Niederlanden hat, ist der angloamerikanische P. von der geistigen Bewegung in der Theologie erst in neuerer Zeit berührt worden. Über die äußere Geschichte des P. s. Reformation.

Vgl. Dorner, Das Princip unserer Kirche (Kiel 1841); Der deutsche P. (von C. B. Hundeshagen, 3. Aufl., Frankf. a. M. 1850); Schweizer, Die prot. Centraldogmen (2 Bde., Zür. 1854-56); Gaß, Geschichte der prot. Dogmatik (4 Bde., Berl. 1854-67); Baur, Das Princip des P. und seine geschichtliche Entwicklung (in den "Theol. Jahrbüchern", Jahrg. 1855); Schenkel, Das Wesen des P. (2. Aufl., Schaffh. 1862); Frank, Geschichte der prot. Theo-^[folgende Seite]