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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Rußland (Finanzen)

sowie die Übertragung richterlicher Befugnisse auf Administrativbeamte durchgeführt. Für alle andern Straf- und Civilprozesse ist das Bezirksgericht zuständig, mit Geschworenen in den Kriminalfällen, welche den Verlust der Standes- oder bürgerlichen Rechte nach sich ziehen. Staatsverbrechen werden vom Appellhof abgeurteilt, dem dann zwei Adelsmarschälle sowie ein Stadthaupt (Bürgermeister) und ein Gemeindeältester beigegeben sind. Überdies ist der Appellhof zweite und letzte Instanz für alle von den Bezirksgerichten gefällten Civil- und Kriminalurteile. Eine dritte Instanz giebt es nicht. Nur wenn ein Urteil ungesetzlich erscheint, kann die Kassation beim Kassationshofe, d. i. dem Senat, nachgesucht werden. Beamte werden, mit Ausnahme der untersten Klassen, von dem Appellhofe gerichtet; bei Ministeranklagen fungiert ein eigener höchster Gerichtshof. Es besteht eine Staatsanwaltschaft, und in Strafsachen ist die Verteidigung durch Advokaten zulässig. Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung ist nur in bestimmten Fällen ausgeschlossen. Durch Ukas vom 20. Nov. (2. Dez.) 1864 wurde das neue Gesetzbuch für den Civil- und Kriminalprozeß sowie das neue Polizeistrafgesetz über die von den Friedensrichtern zu verhängenden Strafen sanktioniert. Durch die Verordnung vom 17. (29.) April 1863 wurden die barbarischen Körperstrafen der Plette (pletj, s. Knute) und des Spießrutenlaufens abgeschafft, ebenso die Brandmarkung. Die körperlichen Strafen sind als ordentliche Strafen aufgehoben und dürfen nur noch von Kollegialgerichten (nicht von den Friedensrichtern) in äußersten Fällen als Strafverwandlungsmittel angewendet werden. Ferner bei Soldaten, welche durch Urteil des Disciplinargerichts in die Klasse der "Bestraften" versetzt worden sind, wird noch die Prügelstrafe vermittelst Ruten angewendet. Endlich kann die Rutenstrafe von den Bauerngerichten und den Bauerngemeindeversammlungen gegen Bauern verhängt werden und nach dem Gesetz von 1890 auch von den Landhauptleuten. Personen weiblichen Geschlechts, Adel, Geistliche, Ehrenbürger, Kaufleute und alle, die eine Kreis- oder höhere Schule besucht haben, sind von der Körperstrafe durchaus ausgeschlossen. Die Todesstrafe kommt außer bei der Militärjustiz nur bei Verbrechen des schwersten Hochverrats, des Attentats auf den Kaiser, in Anwendung. Die Verbannung nach Sibirien, die seit dem 17. Jahrh. vorkommt und unter der Kaiserin Elisabeth an die Stelle der Todesstrafe trat, ist noch ein sehr gewöhnliches Strafmittel und wird auch auf administrativem Wege verhängt (s. Administrative Strafen).

Finanzen. Die Staatseinnahmen betrugen 1726: 10 Mill. Rubel, 1782: 40 Mill., 1801: 80 Mill., 1839: 163 Mill. Seit 1862 wird jährlich das Reichsbudget veröffentlicht, ebenso der Bericht der Reichskontrolle über die Finanzwirtschaft jedes Jahres. In abgerundeten Millionen Kreditrubeln betrugen die ordentlichen Einnahmen 1864: 400, 1874: 560, 1880: 652, 1885: 776, 1890: 943, 1892: 978, 1893: 1046; die Ausgaben 1874: 543, 1880: 694, 1885: 866, 1890: 877, 1892: 984, 1893: 938. Außerordentliche Einnahmen (Anleihen) 1890: 105, 1892: 203; außerordentliche Ausgaben (Eisenbahnbauten) 1890: 178, 1892: 214, 1893: 174. Das Deficit wurde gedeckt aus dem Überschuß der ordentlichen Einnahmen und den Kassenbeständen (über 300 Mill.).

Die ordentlichen Einnahmen und Ausgaben nach dem Budget von 1895:

Einnahmen Mill. Rubel

Direkte Steuern:

Grundsteuer 47,9

Handelssteuer 40,6

Coupon- u. Rentensteuer 13,0

Indirekte Steuern:

Getränke 277,9

Tabak 31,7

Zucker 39,2

Naphtha 17,0

Zündhölzer 6,5

Zölle 148,0

Stempel- und andere Gebühren 63,5

Regalien 42,3

Domänen u. Kapitalien 247,9

Ablösungszahlungen der Bauern 87,8

Rückzahlungen 71,3

Außerordentliche Einnahmen 7,1

Zusammen 1141,7

.

Ausgaben Mill. Rubel

Staatsschulden 221,0

Zahlungen für Eisenbahngesellschaften 56,4

Höchste Regierungsbehörden 2,4

Heiliger Synod 13,6

Hof 11,7

Auswärtiges 4,9

Krieg 271,2

Marine 54,9

Finanzen 144,3

Ackerbau und Domänen 31,4

Inneres 86,8

Volksunterricht 23,6

Wegekommunikationen 152,7

Justiz 26,1

Reichskontrolle 5,4

Hauptverwaltung der Staatsgestüte 1,5

Zusammen 1107,9

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Die außerordentlichen Ausgaben (Eisenbahnbauten) werden 1895 betragen 94 Mill. Rubel und werden gedeckt aus den Überschüssen der ordentlichen Einnahmen und aus den Kassenbeständen (Überschüssen früherer Jahre), die jetzt bereits über 400 Mill. betragen und zur Disposition des Finanzministers stehen. Zu den außerordentlichen Ausgaben werden nach den Regeln vom 4. Juni 1894 nur gerechnet: Ausgaben, die hervorgerufen sind durch Krieg, allgemeine Notstände, vorzeitige Tilgung von Schulden, Eisenbahnbauten und außerordentliche Vermehrung des rollenden Materials. Alles, was früher dahin gehörte: Hafenbauten, Verbesserung der Eisenbahnen, Neubewaffnung des Heers, ist zu den laufenden Ausgaben gerechnet. Zu den außerordentlichen Einnahmen werden gerechnet: Anleihen, Einnahmen aus Kreditoperationen, Einzahlungen in die Reichsbank auf ewige Zeiten, Übergabe von Specialmitteln an die Reichskasse, Veräußerungen bedeutender Immobilien, Rückzahlungen der Eisenbahnen. Dagegen wird der Ersatz der Kriegskosten zu den ordentlichen Einnahmen gerechnet. Seit dem Krimkrieg bestand ein chronisches Deficit, das durch den Russisch-Türkischen Krieg von 1877 bedeutend vermehrt wurde und erst 1888 aufhörte; seitdem schließt das Budget stets mit Überschüssen. Erreicht wurde dies durch Einführung neuer Steuern; doch auch nach Beseitigung des Deficits werden immer neue Steuern eingeführt, so noch 1894 die Quartiersteuer; ferner wurden neu eingeführt die Grund-, die Coupon- und Renten-, die Erbschaftssteuer, die Steuer von Eisenbahnbillets und vom Frachtverkehr, die Steuer von Versicherungspolicen; erhöht: die Handels- und Gewerbesteuer und die Immobiliensteuer in den Städten sowie die Stempelsteuer; dagegen aufgehoben die Kopfsteuer und die Salzaccise. Ein wichtiges Mittel zur Erhöhung der Einnahmen wurde die seit 1887 im großen Stile durchgeführte Verstaatlichung verschiedener Eisenbahnen (im ganzen 23 Linien mit einer Länge von rund 16000 km), unter denen, als in den J. 1894 und 1895 angekauft, die Linien der großen Eisenbahngesellschaft von Nishnij Nowgorod nach Petersburg und Warschau, der Baltischen Bahn, der Linien Riga bis Orel und das System der Südwestbahn (allein 8800 km) zu erwähnen sind.

Weitere Mittel zur Entlastung des Budgets boten die Konvertierungen sämtlicher 6-, 5- und 4½prozentigen auswärtigen und innern Anleihen in 4pro-^[folgende Seite]