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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

Schlagworte auf dieser Seite: Schweiz

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Schweiz (Rechtspflege)

Schweizers, sich innerhalb des schweiz. Gebietes an jedem Orte niederzulassen, ist durch wenig Ausnahmen beschränkt. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist unverletzlich erklärt. Die Errichtung von Bistümern auf schweiz. Gebiet unterliegt der Genehmigung des Bundes. Der Orden der Jesuiten und die ihm assiliierten Gesellschaften dürfen in keinem Teile der S. Aufnahme finden. Die Errichtung neuer und die Wiederherstellung aufgehobener Klöster oder religiöser Orden ist unzulässig. Die Feststellung und Beurkundung des Civilstandes ist Sache der bürgerlichen Behörden. Das Recht der Ehe steht unter dem Schutze des Bundes und darf weder aus kirchlichen, noch ökonomischen, noch polizeilichen Gründen beschränkt werden. Die Preßfreiheit, das Vereinsrecht und das Petitionsrecht sind gewährleistet. Niemand darf seinem verfassungsmäßigen Richter entzogen werden. Die geistliche Gerichtsbarkeit ist abgeschafft.

Die oberste Gewalt wird durch die Bundesversammlung ausgeübt, welche aus dem Nationalrat mit verhältnismäßiger und dem Ständerat mit gleichmäßiger Repräsentanz besteht. Der Nationalrat ist der Vertreter der Nation und wird aus Abgeordneten des schweiz. Volks, je ein Mitglied auf 20000 Seelen, in direkter Wahl (in 52 Wahlkreisen, gegenwärtig 147) gebildet. Die Wahlkreise verteilen sich seit 1890 auf die Kantone folgendermaßen: Aargau 10, Appenzell-Außerrhoden 3, Appenzell-Innerrhoden 1, Basel-Land 3, Basel-Stadt 4, Bern 27, Freiburg 6, Genf 5, Glarus 2, Graubünden 5, Luzern 7, Neuenburg 5, Nidwalden 1, Obwalden 1, St. Gallen 11, Schaffhausen 2, Schwyz 3, Solothurn 4, Tessin 6, Thurgau 5, Uri 1, Waadt 12, Wallis 5, Zürich 17, Zug 1. Die Nationalräte erhalten aus der Bundeskasse Reiseentschädigungen und ein Taggeld von je 20 Frs. In gleicher Weise werden sie entschädigt, wenn sie außerhalb der Sessionen an Kommissionssitzungen teilnehmen. Amtsdauer drei Jahre. Der Ständerat ist Vertreter der eidgenössischen Stände, d. h. der Kantone, und besteht aus 44 Abgeordneten derselben, je zwei aus jedem Kanton und je einer aus jedem Halbkanton. In den Kantonen Appenzell-Außerrhoden, Basel-Stadt, Glarus, Graubünden, Obwalden, Nidwalden, Schaffhausen, Solothurn, Thurgau, Uri, Zürich und Zug wählt das Volk, in den übrigen Kantonen die gesetzgebende Behörde (Kantonsrat, Großer Rat, Landrat) die Ständeräte; entschädigt werden diese durch die Kantone. Beide Räte versammeln sich jährlich einmal zu ordentlichen (getrennten) und außerdem je nach Bedürfnis zu außerordentlichen Sitzungen. Die Dauer jeder Session beträgt 2-4 Wochen. Für Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse ist die Zustimmung beider Räte erforderlich. Bundesgesetze sowie allgemein verbindliche Bundesbeschlüsse, die nicht dringlicher Natur sind, sollen überdies dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt werden, wenn es von 30000 stimmberechtigten Schweizerbürgern oder 8 Kantonen verlangt wird (fakultatives Referendum). Falls 50000 Schweizerbürger durch Namensunterschrift es verlangen, muß ein von ihnen vorgeschlagener Gesetzentwurf nach vorausgehender Behandlung in den Räten dem Volke zur Abstimmung vorgelegt werden (Recht der Initiative). Die Volksinitiative gelangte 1894 zum erstenmal zur Anwendung bei der Einführung des Schächtverbotgesetzes, während der Gesetzesvorschlag «Recht auf Arbeit» (s. d.) vom Schweizervolk mit großer Mehrheit verworfen wurde. Die Sitzungen beider Räte sind in der Regel öffentlich. Wenn es sich um Begnadigungsgesuche, um Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bundesbehörden, um die Wahl von Bundesräten, Bundesrichtern oder des Generals handelt, finden gemeinsame Sitzungen beider Räte (d. i. vereinigte Bundesversammlung) unter dem Vorsitz des Nationalratspräsidenten statt. Die oberste vollziehende und leitende Behörde ist der Bundesrat. Er besteht aus 7 Mitgliedern, die durch die vereinigte Bundesversammlung auf 3 Jahre gewählt werden. An der Spitze steht der Bundespräsident und der Vicepräsident, beide je auf ein Jahr gewählt und in dieser Eigenschaft im folgenden Jahr nicht wieder wählbar. Jedem Mitglied ist ein besonderes Departement zugeteilt. Jedes Departement hat ein Mitglied des Bundesrats zu seinem Vorstand; diese Einteilung hat aber einzig zum Zweck, die Prüfung und Besorgung der Geschäfte zu fördern; der jeweilige Entscheid geht vom Bundesrat als Gesamtbehörde aus. Die Bundesverfassung kann jederzeit durch Bundesgesetz revidiert werden. In den Kantonsverfassungen ist die Demokratie, d. h. die unmittelbare Beteiligung der stimmfähigen Bürger an der Gesetzgebung, in sehr verschiedenem Grade ausgebildet. (Vgl. die einzelnen Kantone und Referendum.) Sitz des Bundesrats und der Bundesversammlung ist Bern, des Bundesgerichts Lausanne. Die diplomat. Vertretung im Auslande wird durch Gesandtschaften in Berlin, Wien, Rom, Paris, London, Washington und Buenos-Aires und durch 89 Konsulate besorgt. Das Wappen der S. ist ein schwebendes silbernes Kreuz im roten Felde; die Landesfarben sind Rot und Weiß.

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Rechtspflege. Die Ausübung der Rechtspflege, soweit sie Bundessache ist, wird durch ein Bundesgericht von 14 Mitgliedern gehandhabt. Dasselbe urteilt mit Zuziehung von Geschworenen in Straffällen, über Hochverrat, Aufruhr, Verbrechen gegen das Völkerrecht u. s. w. Im schweiz. Recht hat sich noch viel Altgermanisches erhalten, und das röm. Recht hat sich mit Ausnahme einiger Grenzkantone nirgends durchgreifenden Eingang verschaffen können. Civil- und Strafrecht sind in den einzelnen Kantonen sehr verschieden; während in der Verwaltung der Justiz und Polizei die wichtigsten Kantone den andern civilisierten Staaten nicht nachstehen, herrschen in einigen Kantonen mit vorwiegend Alpwirtschaft noch primitive, zum Teil mittelalterliche Rechtszustände. Sehr verschieden sind die Prozeßformen, welchen in der Regel entweder die Einrichtungen des deutschen oder des franz. Gerichtsverfahrens zu Grunde liegen. Manche Kantone haben für Kriminal-, teilweise auch für Zuchtpolizeifälle das Institut der Geschworenen eingeführt. Ebenso existieren in einigen industriellen Kantonen (Basel, Genf, Zürich) gewerbliche Schiedsgerichte zur Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, bestehend aus von beiden Ständen gewählten Vertretern beider Stände. Die wiederholt angestrebte Einheitlichkeit der gesamten Civil- und Strafgesetzgebung für die ganze S. ist bis