Schnellsuche:

Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

26

Agrarfrage (Mittel zur Abhilfe)

behrlichen billigen Volksnahrungsmittels dem Sinken der Butterpreise entgegenzuwirken, wie diese Gesetzgebung von manchen gedacht zu sein scheint, würde sie sich völlig wirkungslos erweisen.

Während aber alle die vorgenannten Maßnahmen meistens (die Kreditgenossenschaften ausgeschlossen) aus die Hebung des Reinertrages der ländlichen Produktionswirtschaft abzielen, entweder durch Erhöhung der Marktpreise, oder durch Herabdrückung der eigentlichen Wirtschaftskosten, oder endlich durch technische Verbesserungen oder Absatzerweiterung, kommen daneben andere Mittel in Frage, welche die in der Eigentümlichkeit der herrschenden Agrarverfassung wurzelnden tiefern Ursachen der beunruhigenden Zeiterscheinungen und die von ihnen ausgehenden Wirkungen berühren. Diese Wirkungen sind von dem aus dem Sinken der landwirtschaftlichen Produkte sich ergebenden Ertragsrückgange zu trennen. Dieser letztere hat lediglich jene ungünstigen Wirkungen früher und deutlicher, als es sonst geschehen wäre, in die Erscheinung treten lassen und zum allgemeinen Bewußtsein gebracht, wie umgekehrt die aus der bestehenden Agrarverfassung entwickelten Zustände die Rückwirkungen des Preisrückganges verstärkt und den Charakter der Agrarkrisis verschärft haben. Die in dem Zeitraume vom Ende des vorigen bis zur Mitte dieses Jahrhunderts und teilweise darüber hinaus sich vollziehende, von liberal-individualistischen Grundsätzen beherrschte Reformgesetzgebung beseitigte die Gebundenheit des Bodens, d. h. verwandelte nicht nur allen Lehnsbesitz in Allodialeigentum, sondern schuf vor allem das freie bäuerliche Eigentum. Damit entstand außer dem freien Verkaufs- und Bewirtschaftungsrechte die unbeschränkte Freiheit der Verschuldung und der Regel nach zugleich die gesetzliche Gleichstellung des Grund und Bodens mit dem beweglichen Besitz bei der Vererbung. Waren früher außer im Gebiete des fränkisch-thüring. Rechts, wo von jeher gleiche Erbberechtigung und Naturalteilung herrschte, die Landgüter ungeteilt auf einen einzigen Anerben übergegangen und den Miterben keinerlei Anteile oder höchstens ein Anspruch auf geringe Abfindungssummen zugestanden, so wurde nunmehr der Kapitalwert der Güter gleichmäßig unter alle Erben verteilt und auch für den Fall abweichender testamentarischer Verfügung den gesetzlichen Erben bestimmte Pflichtteile vorbehalten. Dieser Rechtszustand, der den organischen Charakter des landwirtschaftlichen Betriebes und die begrenzte Produktivität des Bodens verkannte, führte je länger je mehr zu einer wachsenden Verschuldung und Zinsbelastung des Grundbesitzes, welche in der Regel größtenteils aus Eintragung von Erbteilen oder Kaufschillingsresten, zum kleinern Teile aus Meliorations- oder sonstigen Darlehen herrührten. Die Kaufschillingsreste gewannen an Umfang, weil, solange die Konjunktur eine steigende war, wegen der zu erwartenden Steigerung des Gutswertes Ankäufe mit geringer Anzahlung unbedenklich erschienen. In manchen Gegenden allerdings hatte sich durch Recht oder Sitte das alte Anerbenrecht mit größerer oder geringerer Bevorzugung des Anerben bei der Vermögensaufteilung erhalten, so daß in ihnen wenigstens die eine der Verschuldungsursachen in ihrer Wirkung abgeschwächt wurde.

Verstärkt wurde die Wirkung der Verschuldung dadurch, daß sie allgemein in der Form der privaten kündbaren Kapitalschuld den Grundbesitz belastete. Sie wurde daher zu einer permanenten Gefahr für die Existenz des Besitzers, da die Natur des landwirtschaftlichen Betriebes wohl eine allmähliche Tilgung aus den Erträgnissen, nicht aber eine Realisierung einzelner Kapitalsbestandteile zuläßt. Eine gekündigte Kapitalsforderung kann, soweit nicht anderweites flüssiges Vermögen zur Verfügung steht, nur vermöge Aufnahme einer neuen Kapitalsschuld, welche erstere ersetzt, ausgezahlt werden. Überdies kommen Privat- oder Individualhypotheken sowohl durch die Höhe ihres Zinsfußes wie durch die Umschreibungsgebühren dem Schuldner teuer. Zwar ist in den Ritter- und Landschaften ein Teil des Grundkredits genossenschaftlich organisiert und hierdurch diesem Teile die Gestalt unkündbarer, niedrig verzinslicher Darlehen gegeben; indessen kommt dieser Kredit vorzugsweise dem größern Grundbesitze, nur stellenweise und in geringerm Maße bisher dem bäuerlichen Besitze zu gute. Auch wird er überhaupt nur in vorsichtig gezogenen Grenzen gewährt. Der Personalkredit ist weit weniger entwickelt als der Grundkredit.

Unter diesen Umständen richten sich alle tiefer greifenden Reformversuche gegen die Verschuldung und ihre Ursachen. Zunächst erstrebt man eine Reform des Erbrechts in der Ausdehnung des teilweise noch erhaltenen Anerbenrechts. Die erste Frucht dieses Strebens waren die Höfegesetze und Landgüterordnungen, welche seit Anfang der siebziger Jahre nacheinander für die Mehrzahl der Provinzen Preußens eingeführt wurden. Dieselben enthalten ein nach den Grundsätzen des Anerbenrechts gestaltetes Intestaterbrecht für bäuerliche Güter und für ländliche Güter überhaupt. Doch war es dem einzelnen Grundbesitzer völlig anheimgegeben, durch Eintragung in die Höferolle sein Gut diesem Intestaterbrechte zu unterstellen oder sich ihm durch Löschung der Eintragung wieder zu entziehen. Auch blieb dem eingetragenen Besitzer das testamentarische Verfügungsrecht völlig ungeschmälert. Indessen wurde außer in denjenigen Gegenden, wo ohnehin die Vererbungssitte an den Grundsätzen des Anerbenrechts festgehalten hatte, nirgends von dem Eintragungsrechte ergiebiger Gebrauch gemacht. Um das Institut der Höferolle wirksamer zu gestalten, besteht die weitere Möglichkeit, die Eintragung in die Höferolle von Amts wegen vornehmen zu lassen, dem einzelnen aber Freiheit zu geben, sein Gut in der Rolle löschen zu lassen. Es kann aber auch, was sich mehr empfiehlt, das Anerbenrecht als besonderes Intestaterbrecht für Landgüter allgemein oder wenigstens für gewisse Gegenden und Landesteile eingeführt werden, so daß der einzelne nur durch Testament seine Anwendung ausschließen oder modifizieren könnte. So geschah es in Österreich durch Gesetz vom J. 1889, mit Beschränkung auf die Güter mittlerer Größe, den eigentlichen Bauernbesitz, allgemein in Braunschweig und Schaumburg-Lippe. Am weitesten geht der Vorschlag, das Anerbenrecht schlechtweg obligatorisch zu machen, so daß weder Testament noch Verfügung unter Lebenden den ungeteilten Übergang auf einen bevorzugten Erben auszuschließen vermöchte. Freilich darf man sich nicht verhehlen, daß durch das Anerbenrecht, wenn es auch die Naturalteilung verhindert, im übrigen nur die Zunahme der Verschuldung aus Erbfällen verlangsamt, aber nicht verhindert wird. Erhöht würde seine Wirk-^[folgende Seite]