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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Agrarfrage (Mittel zur Abhilfe)

durch Ausgestaltung umfassender Organisationen dienen. Eine weitere Aufgabe ist es, das Subhastationswesen der einseitigen Begünstigung der Gläubigerinteressen auf Kosten des Schuldners zu entkleiden, wie es bis zu einem gewissen Grade in mehrern deutschen Staaten sowie in Österreich neuerdings geschehen ist. In Frage kommt dabei, ob es nicht der Billigkeit entspräche, zu Gunsten des Schuldners außer den notwendigsten Gebrauchsvorräten und Betriebsmitteln auch ein Besitzminimum an Land für unangreifbar zu erklären, damit er, wenn auch nur in bescheidenem Maße, seinen wirtschaftlichen Erwerb fortzusetzen vermöchte, ihm also in diesem Sinne eine Heimstätte zu sichern.

Nicht allein ist es übrigens die Gefahr der Verschuldung, welche die Gesundheit der ländlichen Besitz- und Betriebsverhältnisse bedroht; auch die freie Teilbarkeit und die unbeschränkte Möglichkeit der Zusammenlegung vermag zerstörend auf die socialen Zustände einzuwirken, indem sie übermäßige Bodenzersplitterung auf der einen und Großbesitz und Latifundienbildung auf der andern Seite zur Folge hat. Mag auch in manchen Gegenden die Verkleinerung, in andern die Vergrößerung der Besitzungen und der Betriebe in gewissem Umfange unbedenklich oder sogar kulturfördernd wirken, so ist doch die Erhaltung einer kräftigen Bauernschaft, des ländlichen Mittelstandes, sowohl aus technisch-ökonomischen, aber mehr noch aus socialen Gründen eine Grundbedingung einer fortgesetzten gesunden Volksentwicklung. In Deutschland und Österreich hat die freie Bodenbewegung längere Zeit hindurch teils durch Zerschlagung, teils durch Aufsaugung der bäuerlichen Güter auf den mittlern Bauernstand, der ohnehin schon in frühern Jahrhunderten in manchen Gegenden starke Einbußen an seinem Bestande erlitten hatte, zersetzend eingewirkt, allerdings mehr durch das Bauernlegen als durch Aufteilung. In Frankreich hingegen, wo ein demokratisch-individualistisches Erbrecht eine stets erneute Naturalteilung des Grundbesitzes erzwingt, geht die Grundeigentumsbewegung lediglich auf zunehmende Zersplitterung aus, die hauptsächlich durch das bedenkliche Mittel des Zweikindersystems hintangehalten wird. Ist auch zur Zeit durch die ungünstige Lage der Landwirtschaft die weitere Abbröckelung des bäuerlichen Besitzes vorläufig zum Stillstand gebracht, so ist diese sociale Gefahr keineswegs für alle Zeit beseitigt, so daß weitere Vorbeugungsmittel erübrigten. Bei der lebhaften Entwicklung und der mannigfaltigen Gestaltung der landwirtschaftlichen Absatz- und Betriebsverhältnisse in neuerer Zeit ist die Einführung des Güterschlusses, der Unteilbarkeit des Besitzes als allgemeines Erhaltungsmittel unanwendbar. Wohl aber kann er für bestimmte Gegenden und bestimmte Besitzkategorien in Frage kommen, zumal wenn, wie im Königreich Sachsen, die Anpassung der Besitzgrößen an die Betriebserfordernisse durch eine hinreichende Menge walzender Grundstücke ermöglicht wird. So hat man in Österreich erst durch Gesetz vom J. 1889 es den einzelnen Kronländern freigestellt, sowohl durch Festsetzung eines unteilbaren Besitzminimums mit oder ohne Gebot des Rückenbesitzes, wie eventuell auch durch Verbot der Vereinigung mittlerer Besitzungen zu größern Gütern den Bauernstand gegen Zersetzung gesetzlich zu schützen. Haben gleich die deutschen Staatsmänner ähnliche direkte äußere Mittel zur Erhaltung des gegebenen bäuerlichen Besitzes zunächst nicht ergriffen, vielmehr sich darauf beschränkt, durch die allgemeinern Mittel der Agrarpolitik mehr indirekt sein Gedeihen zu fördern, so hat doch Preußen die Zeitverhältnisse benutzt, um durch innere Kolonisation (s. d., Bd. 10) die Zahl der bäuerlichen Stellen zu vermehren und den Bestand der neuen Besitzungen nach Möglichkeit zu sichern. War auch der erste Schritt auf dieser Bahn, der auf Grund des Ansiedelungsgesetzes von 1886 durch den Staat in größerm Umfange vorgenommene Ankauf poln. Rittergüter und deren Besiedelung mit deutschen Bauern, in erster Linie nicht eine agrar-, sondern eine nationalpolit. Maßregel, so wurde er doch der Ausgangspunkt einer umfassendern Agrarpolitik, indem das für die Ansiedelungen in Posen und Westpreußen zum erstenmal zur Anwendung gelangende Institut des Rentenguts (s. d., Bd. 13) 1890 als eine besondere Form des Grundbesitzes allgemein für den Staat zugelassen wurde, so daß sie auch zur Erleichterung privater Kolonisation dienen konnte. Der in dem großen Umfange der privaten Kolonisation erzielte überraschende Erfolg darf mit Recht überwiegend auf die ungünstige Lage des Großgrundbesitzerstandes zurückgeführt werden, der auf solche Weise einen erheblichen Teil seines Bodens vorteilhafter verwerten konnte als durch die eigene Bewirtschaftung, zumal die gebotene Gelegenheit, die Rente durch Vermittelung der Rentenbanken abzulösen, ihm die Mittel gab, einen Teil seiner Schulden abzustoßen.

Indem man im J. 1896 für die Rentengüter das Anerbenrecht gesetzlich einführte, suchte man ihre Erhaltung innerhalb derselben fernerhin zu fördern. Ob aber die neue Bauernschaft bei längerer Fortdauer der ungünstigen Konjunkturen in der Landwirtschaft oder gar bei einem noch weitern Rückgang der Rentabilität des landwirtschaftlichen Betriebes sich mit der übernommenen Rentenschuld in ihrer Existenz wird behaupten können, muß erst die Zukunft lehren.

Unter sonst gleichen Verhältnissen erweist sich der bäuerliche Besitz in den wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Gegenwart widerstandsfähiger als der Großbesitz. Nicht nur wirtschaftet der letztere teurer, er leidet auch, außer unter der Höhe der Löhne, immer mehr unter dem wachsenden Mangel an Arbeitern. Daß der Großbetrieb des Ostens in der heutigen Ausdehnung sich unter den gegebenen Verhältnissen nicht behaupten kann, scheint sich immer deutlicher herauszustellen. Eine weitere Ausbreitung des bäuerlichen Besitzstandes im Osten, soweit sie den dort unentbehrlichen Großbesitz nicht ganz verschlingt, sondern nur in seiner übermäßigen Ausdehnung beschränkt, kann vom wirtschaftlichen und socialen Gesichtspunkte nur günstig beurteilt werden. Fraglich ist es nur, ob die privaten Rentengutsgründungen ausreichend sein werden, eine gesündere sociale Gliederung der Bevölkerung und der Besitzverteilung im Osten in genügendem Umfange herbeizuführen, ob nicht der Staat dasselbe Verfahren, das er in den poln. Gebietsteilen aus nationalpolit. Motiven befolgt, in agrarpolit. Absicht auch allgemein zur Anwendung bringen sollte. Freilich kann man sich nicht verhehlen, daß eine starke Durchsetzung der östl. Provinzen mit einer wohlhabenden und unabhängigen Bauernschaft die bisherige polit. Stellung und Bedeutung dieser Provinzen wesentlich verändern würde.