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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Agrarfrage (Litteratur)

In nahem Zusammenhang mit der innern Kolonisation steht unverkennbar die ländliche Arbeiterfrage. Durch die fortschreitende Entfaltung der Industrie und des Gewerbes haben, unterstützt durch die großartigen Verkehrserleichterungen und die Freizügigkeit, die gewerblichen Gegenden, insbesondere die Städte, eine immer stärkere Anziehungskraft auf die übrige Bevölkerung entwickelt. Sie haben nicht nur den im regelmäßigen Verlauf der Dinge vom platten Lande ständig erzeugten Bevölkerungsüberschuß aufgenommen, sie haben darüber hinaus auch dem Lande die ihm notwendigen Arbeitskräfte mehr und mehr entzogen. Mit der Anziehungskraft der Städte verband sich seit langem diejenige der überseeischen Kolonisationsgebiete, vor allem der Vereinigten Staaten von Amerika, um die Wirkung noch zu verstärken. Wenn auch infolgedessen überall auf dem Lande ein zunehmender Mangel an Arbeitskräften sich fühlbar machte, so litten doch am empfindlichsten die östl. Distrikte Deutschlands. Die dünnbevölkerten Teile stellten das größte Kontingent für Ab- und Auswanderung, weil in ihnen im Unterschiede von den westl. Gegenden die landwirtschaftlichen Arbeiter eine besondere, von den Bodenbesitzern vollständig getrennte Bevölkerungsgruppe bilden, der die Möglichkeit, ein eigenes Besitztum zu erwerben und hierdurch ihre wirtschaftliche und sociale Lage zu verbessern, in der Regel völlig fehlt. Die Zusammenlegungen und Gemeinheitsteilungen nahmen ihnen die bisher genossenen Bodennutzungen und damit die eigene Viehhaltung. Ungünstig wirkte auf ihre Interessen die zunehmende Verdrängung des Naturallohns durch den Geldlohn. Das Eindringen der landwirtschaftlichen Maschinen endlich, besonders der Dreschmaschinen, in den Betrieb gestaltete die ständige Beschäftigung der nicht kontraktlich gebundenen Arbeiter, der eigentlichen Tagelöhner, immer schwieriger und verschlechterte deren Erwerbsverhältnisse, da bei der geringen gewerblichen Entwicklung ein Ersatz für die ausfallende Winterarbeit selten zu gewinnen war. Die zunehmende Heranziehung von Wanderarbeitern, zum großen Teil poln. und russ. Ursprungs, welche die ansässige Arbeiterschaft zu ersetzen bestimmt sind, ist die notwendige Folge. Die innere Kolonisation löst in den Grenzen ihres Umfanges die ländliche Arbeiterfrage, indem sie durch Ansetzung von selbständigen Bauern den Bedarf an Lohnarbeit beschränkt und den schroffen Gegensatz zwischen Besitz und Arbeit aufhebt. Geht die Ansiedelung grundbesitzender Arbeiter mit der Ansetzung von Bauern Hand in Hand, so wird voraussichtlich dem weitern Schwinden des ländlichen Arbeiterstandes ein wirksamer Damm entgegengesetzt. Ohne Eröffnung oder Erweiterung der Gelegenheit zum Grunderwerb ist jedenfalls die ländliche Arbeiterfrage nicht lösbar. Von der befriedigenden Lösung dieser Frage aber bleibt in erster Linie die Fortdauer und Lebensfähigkeit des landwirtschaftlichen Großbetriebes abhängig.

Ein wesentlich anderes Gesicht als in Deutschland und Österreich zeigen die Agrarverhältnisse Frankreichs. Ihr Gepräge erhalten diese durch das allgemeine Vorherrschen des Kleinbauerntums und des Kleinbesitzes, mit dem sich eine starke Parzellenzersplitterung verbindet. Gestützt und gefördert durch das Erbrecht des Code civil, das auf dem Princip des Naturalteilungszwanges ruht, ist die Teilung des Grundeigentums in fortwährender Zunahme begriffen. Drei Fünftel der selbständigen Landwirte sind Eigentümer, zwei Fünftel Pächter und Teilbauern oder Halbpächter (Métayers). Von der bewirtschafteten Fläche ist nahezu die Hälfte Pachtland, und zwar sind 35,9 Proz. von Zeitpächtern, 13,2 Proz. von Teilbauern bewirtschaftet. Die hypothekarische Schuld ist sowohl infolge der großen Wirtschaftlichkeit der Bevölkerung, welche die Ausdehnung des Betriebes mit den verfügbaren Kapitalmitteln in Einklang zu halten pflegt, wie auch wegen der Eigenart des Hypothekenrechts, das einer Ausbreitung der Grundverschuldung wenig förderlich ist, von geringer Größe. Von größerer Bedeutung ist der Personalkredit, doch hat sich auch dieser zu keinem bedrohlichen Umfange entwickelt. Die Lage der landwirtschaftlichen Arbeiter ist bei hohen Löhnen eine überaus günstige. Drei Viertel von ihnen verfügt über eigenen Grundbesitz. Unter den ungünstigen Preiskonjunkturen leiden seit dem Anfange der achtziger Jahre auch dort die ländlichen Kreise; doch kann von einer Krisis höchstens in Bezug auf die Klasse der Pächter gesprochen werden, von denen manche infolge des Sinkens der Produktenpreise große Vermögensverluste erlitten. Eine wirkliche A., wie sie in Deutschland besteht, giebt es in Frankreich kaum, noch weniger eine ländliche Arbeiterfrage, obschon auch hier die ungünstige Entwicklung der Produktenpreise einen allgemeinen Druck in der Landwirtschaft erzeugt hat. Die Regierung bat sich in der Hauptsache darauf beschränkt, durch ergiebige Erhöhung der Getreide- und Viehzölle, deren vertragsmäßige Bindung sie im Unterschiede von Deutschland stets abgelehnt hat, den ungünstigen Einfluß der niedrigen Weltmarktpreise auf die einheimische Landwirtschaft nach Möglichkeit abzuschwächen.

Bemerkenswert ist es, daß der zur Zeit in Bezug auf das Getreide herrschende Preisdruck so stark ist, daß seine Wirkung nicht mehr lediglich den Landwirtschaftsbetrieb der westeurop. Importländer mit einer Krisis bedroht, sondern selbst Exportgebiete, Nordamerika, Rußland, Indien, in Mitleidenschaft zieht.

Die Art, wie die agrarischen Fragen sich lösen und gelöst werden, wird wesentlich davon abhängen, ob die äußern Ursachen der augenblicklich herrschenden Notlage dauernd werden bestehen bleiben oder in kürzerer Zeit aufhören werden zu wirken. Die Hauptschwierigkeit, welche die Lösung der A. bietet, ist die, daß gerade die Bedrängnis, in welche die Landwirtschaft auf dem europ. Kontinent infolge der Umgestaltung der Weltproduktions- und Welthandelsverhältnisse geraten ist, dort, wo sie die Schwächen der bestehenden Agrarverhältnisse offenbar werden ließ, vielfach selbst zum Hindernis wird, den Meistbedrängten durch Ergreifung organischer Mittel vor dem drohenden Zusammenbruche zu bewahren. Mag sich aber auch die Agrarkrisis noch so drohend gestalten, das eine Gute wird sie trotz allem zur Folge haben, daß sie eine Reihe wichtiger und notwendiger Reformen erzwingen wird, die unter andern Umständen nicht so bald zur Verwirklichung gelangt wären. Eine tiefere Erkenntnis der agrarwirtschaftlichen Verhältnisse und eine vollkommenere Organisation aller zur landwirtschaftlichen Produktion und zum ländlichen Besitz in Beziehung stehenden Einrichtungen wird voraussichtlich als dauernde Frucht den kommenden Zeiten verbleiben.

Litteratur. Rodbertus-Jagetzow, Zur Erklärung und Abhilfe der heutigen Kreditnot des Grund-^[folgende Seite]