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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Arbeiterfrage (Einigungsämter. Gewerbegerichte)
ansieht. Und in den Verhandlungen der Gewerkschaften tritt weniger die Lohnfrage in den Vordergrund, als daß man sich angelegen sein läßt, für hygieinische Verbesserungen, Unterstützung in Fällen von Arbeitslosigkeit und andere im Nahmen der heutigen Gesellschaftsverfassung erreichbare Reformen einzutreten, über das Fortschreiten der Arbeiterorganisationen s. Gewerkvereine.
Einigungsämter. Wie immer man über die Gunst der Lage für die heutige Arbeiterwelt und ihre Berechtigung zur Selbsthilfe denken mag, sicher ist, daß auch die Gesellschaft und der Staat Pflichten gegenüber den Arbeitern haben. Sofern es sich um einen gesetzlichen Schutz der Schwächern und die Bewachung über die Durchführung desselben dreht, war davon bereits bei der Fabrikgesetzgebung und Fabrikinspektion die Rede. Es giebt indes noch andere Institutionen, deren segensreiche Wirksamkeit heute kaum noch bestritten wird, deren allgemeine Ausbreitung jedoch offenbar nur mit Hilfe des Staates geschehen kann. Dahin gehören die Einigungsämter. Immer mehr bricht sich neuerdings die Überzeugung Bahn, daß für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital derartige Einrichtungen nötig sind. Zum Teil liegt darin wohl die stillschweigende Anerkennung jenes Grundsatzes der Gleichberechtigung von Arbeitern und Unternehmern. Zugleich aber bringt die praktische Erwägung, daß es mit ihrer Hilfe möglich scheint, Unbesonnenheiten und Maßlosigkeiten zu vermeiden und doch die Interessen des Kapitals wahrzunehmen, die Unternehmer darauf, sich der Gründung von Einigungsämtern nicht entgegen zu stellen, sondern sie sogar zu empfehlen. Charakteristisch ist dabei der in fast allen Ländern hervortretende Zug, das bisherige Einigungsverfahren in gesetzliche Wege zu lenken, womöglich die der Einigung widerstrebende Partei zu zwingen, sich einem Schiedssprüche zu unterwerfen. Dieser soll jedoch nicht von dem gewöhnlichen Gericht, sondern von einem ad hoc zusammentretenden Forum gefällt werden. Im Deutschen Reich können die Gewerbegerichte gleichzeitig als Einigungsämter funktionieren. 1893 ist das auch zum erstenmal vorgekommen und seitdem mit einem gewissen Erfolg wiederholt worden. In Leipzig, Bremen, Kiel, Danzig, Königsberg, Berlin scheint die Anrufung des Gewerbegerichts bei Streiks die Regel werden zu wollen. Ein förmliches Gesetz über Einigungsämter hat Frankreich 27. Dez. 1892 bekommen. Dasselbe hat neben den Conseils de prud'hommes keine permanenten Ausschüsse für ein Einigungsverfahren geschaffen, sondern dem jeweiligen Friedensrichter die Vermittlerrolle zugedacht. An ihn kann sich eine der streitenden Parteien, die den Wunsch friedlicher Verständigung hegt, wenden, worauf er verpflichtet ist, innerhalb 24 Stunden die gegnerische Partei zu benachrichtigen. Nimmt diese den Antrag an, so beruft er unverzüglich die beiderseitigen Vertreter zu einer Konferenz, die er leitet, auf der er jedoch nur eine beratende Stimme besitzt. Findet eine Verständigung statt, so nimmt der Friedensrichter ein Protokoll auf, das er von beiden Parteien unterzeichnen läßt. Im andern Falle wählen beide Parteien entweder einen gemeinsamen Schiedsrichter oder jede je einen, die sich alsdann auf einen Dritten, den Unparteiischen, einigen müssen. Ist es bereits zum Ausbruch eines Streiks gekommen, so ist der Friedensrichter von Amts wegen gehalten, ein Schiedsgericht vorzuschlagen, und die Parteien haben sich im Laufe von drei Tagen zu erklären, ob sie es annehmen wollen oder nicht. Auf Grundlage dieses Gesetzes hat sich 1893 in 104 Fällen ein Einigungsverfahren abgespielt, 1835 in 84 Fällen, von denen bereits 72 zur Arbeitseinstellung geführt hatten.
In England wurden durch Intervention von Schiedsgerichten 1892: 24, 1893: 25, 1894: 39 Streiks oder Lockouts beigelegt. Die Distriktseinigungs- und Schiedsgerichtsämter kamen 1893 nur dreimal, im folgenden Jahre gar nicht zur Bethätigung hinsichtlich der Beilegung von Streiks, haben aber zur Verhütung der letztern eine segensreiche präventive Thätigkeit ausgeübt. Ein neues, im März 1895 erlassenes Gesetz hat die Initiative zur Errichtung von Einigungsämtern, die seither ganz in den Händen von Privatpersonen lag, dem Handelsamte (Board of trade) übertragen. Dasselbe ist ermächtigt, bei Ausbruch von Streitigkeiten zwischen Unternehmern und Arbeitern 1) die Ursachen und Umstände derselben zu ermitteln und über sie zu berichten, 2) die Parteien aufzufordern, Vertreter zu wählen, die unter dem Vorsitz eines entweder in beiderseitiger Übereinstimmung gewählten oder vom Handelsamt ernannten Präsidenten eine friedliche Beilegung versuchen.
Italien hat in dem Gesetze vom 15. Juni 1893 über die Probi-viri auch Einigungsämter bekommen, da jedes Kollegium aus einem Uffizio di conciliazione und dem Gewerbegericht (giuria) besteht. Das erstere entspricht zunächst dem Bureau particulier der franz. Conseils de prud'hommes, kann aber auch zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten, die sich auf das Arbeits- und Lohnverhältnis beziehen, angegangen werden. In Belgien hat wenigstens die Stadt Verviers 13. April 1896 beschlossen, ein kommunales Einigungsamt zu errichten, bestehend aus 6 Mitgliedern des Gemeinderats, und Unternehmer und Arbeiter TTTTT gleichen Teilen aufweisend. In Dänemark und Osterreich ist man im Stadium des Entwurfs stecken geblieben. Dafür aber haben in letzterm Lande wenigstens im J. 1894 Gewerbeinspektoren und Gewerbebehörden bei der Beilegung von Arbeitseinstellungen vermittelt. Von 159 Streiks des genannten Jahres wurden 52 durch die erstern, 19 durch die letztern beendet, d. h. beinahe 50 Proz. aller Ausstände. Bei alledem wäre es doch sehr wünschenswert, den 1894 dem Abgeordnetenhause vorgelegten Entwurf, wonach Einigungsämter dazu bestimmt wurden, «eine gütliche Verstündigung über die Bedingungen der Fortsetzung oder Wiederaufnahme des Arbeitsverhältnisses herbeizuführen», Gesetz werden zu sehen.
Gewerbegerichte. Eine sehr erfreuliche Entwicklung haben in Deutschland die Gewerbegerichte auf Grundlage des Gesetzes von 1890 genommen. Man zählte 1892: 154, 1893: 207, 1895: 272 Gewerbegerichte. An Streitigkeiten waren anhängig 1892: 20015, 1893: 37386 zwischen Unternehmern und Arbeitern, und 136 und 221 zwischen Arbeitern desselben Arbeitgebers. Erledigt wurden 1893 durch TTTTT Vergleich 14865, Verzicht 374, Zurücknahme der Klage 6346, Anerkenntnis 727, Versäumnisurteil 3766, durch sonstige Endurteile 8579, im ganzen 34657 Klagen. Neben den Gewerbegerichten kommen noch in Betracht die 10 rhein. Gewerbegerichte, 5 Bergschiedsgerichte in Sachsen, je 1 Gewerbegericht in Hamburg, Bremen, Lübeck und 5 Gewerbegerichte in Elsaß-Lothringen. Deutet