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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutschland und Deutsches Reich
Wiewohl der Reichskanzler Graf Caprivi die Vor-
lage mit der Notwendigkeit, die bisherigen Mängel
der Organisation abzustellen und die Streitkräfte
Deutschlands angesichts der stetig wachsenden Heere
Rußlands und Frankreichs zu verstärken, ausführ-
lich im Reichstage motivierte (23. Nov. 1892), fand
er in der ersten Lefung wenig Beifall. Die Frei-
sinnigen, die Socialdemokraten, das Centrum und
zum Teil die Nationalliberalen scheuten die großen
Ausgaben, die Konservativen wollten von der zwei-
jährigen Dienstzeit nichts wissen, und auch Fürst
Vismarck verurteilte sie als eine Abweichung von
altbewährten preuß. Traditionen. Auch in der Armee
ließen sich Stimmen in diesem Sinne vernehmen,
doch brachte eine scharfe Neujahrsrede des Kaisers
an die gratulierenden Generale diese Opposition zum
Schweigen, und hierauf gaben auch die Konserva-
tiven und nach ihnen die Nationalliberalen ihren
Widerstand auf. Eine Mehrheit war jedoch damit
nicht geschaffen, das Gros des Centrums und der
Freisinnigen blieb unerschütterlich. Ein von der Re-
gierung gebilligter Vermittelungsvorschlag des Cen-
trumsabgeordneten Freiherrn von Huene, wonach die
Mehreinstellung um 12800 Mann und 1100 Unter-
offiziere und die Kosten um 9 Mill. M. verringert
werden sollten, wurde mit 210 (Centrum, Freisin-
nige, Socialisten) gegen 162 Stimmen (beide konser-
vative Fraktionen, Nationalliberale, Polen, Anti-
semiten, einige Freisinnige und Centrumsmitglieder)
abgelehnt (6. Mai 1893). Unmittelbar darauf wurde
der Reichstag aufgelöst. Die Neuwahl fand 15. Juni,
die Wiedereröffnung 4. Juli statt, und bereits 15. Juli
wurde die Heeresverstärkung nach dem Vorschlag
Huenes mit 201 gegen 185 Stimmen angenommen
<s. Deutsches Heerwesen).
Die durch die Militärvorlagc veranlaßte Reichs-
tagswahl brachte große Veränderungen in der Zu-
sammensetzung der Parteien hervor. Das Centrum
verlor zwar nur wenig Mandate (9), stieß aber die
Elemente, die für den Antrag Huene gestimmt hat-
ten, bis auf wenige Ausnahmen aus. Die Frei-
sinnige Partei spaltete sich sogleich nach der Auf-
lösung in die Freisinnige Vereinigung unter Führung
Rickerts, die später den Antrag Huene genehmigte,
und in die Freisinnige Volkspartei unter Führung
Richters. Bei den Wahlen erlitten beide Parteien
große Verluste, von den gemeinsamen 70 Mandaten
erlangte die Vereinigung nur 13 und die Volks-
partei 23. Den Vorteil hatten in erster Reihe die
Antisemiten, die Nationalliberalen und die Neichs-
, Partei, die ihre Sitze von 6, 42 und 18 auf 18, 52
und 27 vermehrten, endlich die Socialdemokraten,
die fast 1787 000 Stimmen aufbrachten und 8 Man-
date eroberten. Mit großen Hoffnungen waren die
Konservativen in den Wahlkampf gezogen, da sie in
einer starken agrarischen und antisemit. Bewegung
kräftige Bundesgenossen gefunden zu haben glaub-
ten. Die Unzufriedenheit der Landwirtschaft mit
den niedrigen Getreidepreisen, die 1892 stark ge-
fallen waren, nahm so zu, daß ein Aufruf eines
schles. Pächters Ruprecht an die Landwirte, unter
die Socialdemokraten zu gehen, wenn die Regierung
ihren Klagen nicht abhelfen wolle, begeisterten An-
klang fand (Jan. 1893). Ein Bund der Landwirte
(s. d.) wurde gegründet (18. Febr. 1893), der in seinem
Programm jede weitere Ermäßigung der Zölle, ins-
besondere einen Handelsvertrag mit Rußland, un-
bedingt verwarf und neben andern Maßregeln, wie
Schutz gegen Seuchenemschleppung, Errichtung von
Landwirtschaftskammern, vor allem die Herbeifüh-
rung der internationalen Doppelwährung als wirk-
samstes Schutzmittel gegen den Rückgang der Preise
verlangte, alles Forderungen, die sich mit den Grund-
sätzen der Konservativen aufs engste berührten. Aber
obwohl der Bund bald viele Mitglieder zählte und
eine rührige Agitation entfaltete, brachte diese Be-
wegung den Konservativen bei den Wahlen keinen
Gewinn; ihr Besitzstand blieb fast unverändert
(70 Mandate). Der Antisemitismus endlich wurde
den Konservativen bald ein gefährlicher Konkurrent.
Die antisemit. Agitation war in den letzten Jahren
sehr erfolgreich gewesen. Ein Symptom dafür war
die Wahl des Berliner Rektors Ahlwardt, eines
Mannes ohne moralische und intellektuelle Quali-
täten. Wenn nun schon vorher in den Reihen der
Konservativen starke Sympathien für die Antisemi-
ten geherrscht hatten, so traten diese nach Ahlwardts
Erfolge noch stärker hervor, und auf einem Partei-
tage in Berlin fand dieser nicht nur vielen Beifall,
sondern auch das Parteiprogramm wurde in ent-
schieden antisemit. Sinne abgeändert (8. Dez. 1892).
Aber bei den Wahlen schieden sich dennoch die Wege
der beiden Parteien, und die reinen Antisemiten, die
ihrerseits wieder in mehrere Gruppen zerfielen, ent-
rissen den Konservativen einige Sitze, ja im Laufe
des 1.1893 proklamierte gar einer ihrer Führer,
Abgeordneter Boeckel, den Kampf gegen christl. Ka-
pital und Junker ebenfo wie gegen Juden. Im Okt.
1894 schlössen sich die verschiedenen Gruppen zu einer
Reichstagsfraktion, der "Deutsch-socialen Reform-
Partei", zusammen, in die Ahlwardt nicht aufge-
nommen wurde.
In das 1.1893 fällt ferner die Versöhnung des
Kaisers mit dem Fürsten Bismarck (s. d.), ein Er-
eignis, das zwar ohne unmittelbare polit. Folgen
blieb, aber einen Lieblingswunsch der patriotischen
Kreise erfüllte.
In der auswärtigen Politik erhielten die Friedens-
bestrcbungcn der deutschen Regierung durch die An-
nahme der Heeresverstärkung eine neue Stütze, und
innerhalb des Dreibundes blieb das Verhältnis zu
den Bundesgenossen unverändert, wie unter andern
die Reisen des Kaisers nach Rom zur Feier der silber-
nen Hochzeit des ital. Königspaares, der Aufenthalt
in Ungarn und die Ernennung des Erzherzogs Al-
brecht zum preuß. Feldmarschall beweisen.
Die Kolonialpolitik von 1893 bis 1895 wird durch
eine Reihe Verträge mit England und Frankreich
charakterisiert. Die Abkommen mit England be-
trafen Grenzregulierungen in Ostafrika, im Kamerun-
und Olflußgebict, am Binuefluß und die Einführung
eines gemeinsamen Zollsystems für die östlich vom
Volta belegencn brit. Gebiete und die deutschen Be-
sitzungen an der Gold- und Sklavenküste. In dem
Vertrage mit Frankreich (15. März 1894) verzichtete
Deutschland auf das seit 1885 streitige Hinterland
von Kamerun und auf die Verbindung mit dem
Centralfudan, erhielt aber dafür einen Zugang zum
Sanga und einen Teil des Oberlaufs vom Schari.
Wenn dieses Abkommen die Kolonialfreunde nicht
durchweg befriedigte, so fand die Haltung der Re-
gierung bei einer andern Gelegenheit um so mehr
Beifall. England schloß einen Vertrag mit dem
Kongostaate (12. Mai 1894), der ihm einen Land-
strich zwischen dem Tanganika- und Albertsee ein-
räumte und damit eine Verbindung zwischen seinen
südafrik. Besitzungen und dem Nillande ermöglichte.
Deutschland, das die Nachbarschaft des Kongostaa-