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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutschland und Deutsches Reich
tes der der Engländer vorzog, protestierte, gestützt
auf eine Bestimmung des Anerkennungsvertrags
mit dem Kongostaate, wonach es bei Vesitzverände-
rungen in diesen Gebieten um Zustimmung ersucht
werden mußte, sofort gegen diesen Traktat, und der
Artikel wurde in der That zurückgezogen (Juli). In
den Kolonien selbst war das wichtigste Ereignis der
Aufstand der Kameruner Polizeitruppen (Dez. 1893),
der zwar bald niedergeworfen wurde, aber im Neichs-
tage heftige Angriffe auf die Kolonialverwalwng
veranlaßte. Auch in Ost- und Südwestafrika blieb
es nicht ohne Kämpfe; hier zwang der Gouverneur
Major Leutwein den bedeutendsten Gegner der Deut-
schen, Hendrik Witboi, zur Nuhe, dort unternahm
Oberst von Schele mehrere Expeditionen gegen die
Wahehe und andere aufrührerische Stämme. In
Ostafrika, dessen Verwaltung 1895 Major von
Wissmann im August wieder übernahm, erregten
Goldfunde große Hoffnungen auf gedeihliche wirt-
schaftliche Entwicklung.
In der Wirtschaftspolitik wurde die Bahn der
Handelsverträge weiter beschritten; dem Vertrage
mit Osterreich folgten die mit Rumänien, mit Ser-
bien (1893) und nach langen Verhandlungen, die
zeitweilig durch einen Zollkrieg unterbrochen waren
(seit Juli 1893), mit Rußland (Febr. 1894). Die
Mehrheit, mit der die Verträge im Reichstage
angenommen wurden, war weit geringer als die
1891; die agrarische Opposition war bedeutend er-
starkt und bekämpfte namentlich den rumän. und
russ. Vertrag mit Leidenschaft, da sie aus diefen
Ländern Überschwemmungen mit billigem Getreide
befürchtete. Die Freunde der Verträge wiesen dar-
auf hin, daß bei Ablehnung der Verträge mit Ru-
mänien und Rußland Deutschland seinen Bedarf
aus Amerika und Osterreich, denen derselbe Zollfatz
zugestanden sei, decken werde; die Ableynung werde
also der Landwirtschaft nichts nützen und der In-
dustrie schaden. Der rumän. Handelsvertrag wurde
endlich mit 189 gegen 165 Stimmen angenommen
(15. Dez. 1893), der russische mit 200 gegen 146
Stimmen (10. März 1894). Um die Wirkung der
Handelsverträge zu paralysieren, beantragte die kon-
servative Partei, die Getreideeinfuhr zu monopoli-
sieren und einen Minimalpreis für das Getreide
festzusetzen (215 M. für die Tonne Weizen, 165 M.
für Roggen); der Reichstag erklärte sich jedoch so-
gleich mit 156 gegen 46 Stimmen dagegen (14. April
1894), und als der "Antrag Kanitz" in den beiden
folgenden Jahren wiederholt wurde, fand er eben-
falls keine Mehrheit.
Ein anderes Mittel zur Hebung der Getreide-
preise sahen die Agrarier in dem internationalen
Bimetallismus, und hierin hatten sie insofern einen
Erfolg, als die Regierung, einer Resolution des
Reichstags nachgebend, Verhandlungen mit Eng-
land über die Berufung einer Münzkonferenz zur
internationalen Regelung der Wahrungsfrage an-
knüpfte, die aber zu keinem Resultat führten. Diese
beiden Forderungen, Getreideeinfuhrmonopol und
Bimetallismus, verschwanden seitdem nicht wieder
aus der agrarischen Agitation; daneben wurde vor-
nehmlich eine Reform des Getreidchandels, in erster
Linie das Verbot des Terminhandels verlangt und
darauf bezügliche Anträge im Reichstage eingebracht,
die schließlich von diesem 1. Mai 1896 mit 200 gegen
39 Stimmen angenommen wurden. Der Ton der
Agrarier gegcn die Regierung, speciell gegen den
Reichskanzler, wurde immer schärfer, so daß der
Kaiser selbst bei einem Festmahle in Königsberg die
Kampfesweise der agrarischen Presse öffentlich leb-
haft tadelte (6. Sept. 1894).
Gleichzeitig mit den letzten Handelsverträgen
wurde eine Vorlage zur Reichssteuerreform und zur
Deckung der Kosten der Militärvorlage eingebracht.
Tabak-, Wein- und Börsensteuer sollten 99 MM. M.
Mehreinnahmen ergeben, so daß eine Amortisation
der Reichsschuld stattfinden und die Einzelstaaten
statt der schwankenden Überweisungen eine jährliche
Rente von 40 Mill. M. erhalten könnten. Der Plan
kam jedoch nicht zur Ausführung, da die Wein- und
die Tabaksteuer abgelehnt wurden.
Große Veränderungen brachte der Schluß des
I. 1894. Die anarchistischen Attentate in Frank-
reich und Italien lenkten die allgemeine Aufmerk-
samkeit auf die revolutionären Bestrebungen der So-
cialdemokratie, und es machten sich lebhafte Wünsche
geltend, die eine energische Unterdrückung der revo-
lutionären Agitation auch in Deutschland forderten.
Ein Konflikt zwischen der Arbeiterschaft Berlins und
einer Anzahl Brauereien, die boykottiert wurden,
weil sie eine Lohnerhöhung nicht bewilligt und strei-
kende Arbeiter entlassen hatten, verstärkte diese Ten-
denzen. Die schärfsten gesetzlichen Maßregeln for-
derten die Mittelparteien, wo gelegentlich auch die
Forderung, das allgemeine Stimmrecht aufzuheben,
ausgesprochen wurde; Freisinnige und Antisemiten
verwarfen sie unbedingt, und auch Konservative und
Centrum verhielten sich kühler und erwarteten mehr
von einer Verstärkung des kirchlichen Einflusses in
der Schule. Die Regierung zögerte lange mit einer
deutlichen Stellungnahme; wie bald bekannt wurde,
bestanden unter den Ministern erhebliche Differenzen
in dieser Frage; der Reichskanzler Caprivi hatte
wenig Neigung zu einem Vorgehen der Reichsgesetz-
gebung, während Graf Eulenburg, der preuh. Mi-
nisterpräsident, zu weitergehenden Vorschlägen bereit
war. Die Krisis endete mit der Entlassung beider
Minister. An Caprivis Stelle trat der bisherige
Statthalter in Elsaß-Lothringen, Fürst zuHohenlohe-
Schillingsfürst, der zugleich preuß. Ministerpräsi-
dent wurde (29. Okt.).
Wenige Wochen später trat der Reichstag zu-
sammen (5. Dez. 1894), und an demselben Tage
wurde das von Wallot erbaute neue Reichstags-
gebüude vom Kaiser feierlich eingeweiht. Als am
folgenden Tage der Präsident die erste Sitzung im
neuen Hause mit einem Hoch auf den Kaiser eröff-
nete, blieben einige anwesende Socialdemokraten,
darunter der Abgeordnete Liebknecht, sitzen, was den
Reichskanzler veranlaßte, beim Reichstage die Er-
laubnis zur strafrechtlichen Verfolgung Liebknechts
wegen Majestätsbeleidigung nachzusuchen, die in-
dessen versagt wurde (15. Dez.). Trotzdem diese so-
cialistische Demonstration in und außer dem Hause
große Entrüstung hervorrief, fand die gegen die
Socialdemokraten gerichtete Umsturzvorlage, die her-
vorgegangen war aus der antisocialistischen Agita-
tion des Sommers und nun dem Reichstage vor-
gelegt wurde, mehr Gegner als Freunde. Sie brachte
einige Ergänzungen zum Preßgesetz und Militär-
strafgesetzbuch und bedrohte die Anreizung zu Ver-
brechen, die Beschimpfung der Religion, Monarchie,
Ehe, Familie und die auf Untergrabung der militär.
Disciplin gerichteten Bestrebungen mit Strafe. Wäh-
rend in der Öffentlichkeit ein heftiger Streit über die
Vorlage entbrannte, setzte in der Reichstagskommis-
sion das Centrum eine vollständige Änderung des