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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Deutschland und Deutsches Reich
Gesetzes durch, indem es einige Bestimmungen ein- ^
fügte, die Religion und Sitte wirksamer als bisher
schützen sollten, aber ihre Spitze gegen die freie wissen-
schaftliche Forschung richteten. Hierzu konnten die
Mittelparteien ihre Zustimmung nicht geben, und
da das Centrum die Regierungsvorlage nickt an-
nahm, so fand sich keine Mehrheit, und das Gesetz
wurde in der zweiten Lesung abgelehnt <11. Mai).
Von den übrigen Beschlüssen des Reichstags waren
die wichtigsten die Erhöhung der Zuckerprämien und '
der Branntweinsteuer, die Abänderung des Reichs-
invalidenfonds, die Verstärkung der Marine um vier
Kreuzer und das Gesetz zur Bestrafung des Sklaven-
handels und -Raubes.
Am 20. Juni 1895 erfolgte die feierliche Eröffnung
des Nordostseekanals unter Teilnahme sämtlicher
seefahrenden Nationen, außerdem fielen in dieses
Jahr die Jubiläumsfeiern der Siege von 1870, die
mit einem 10. Mai 1896 zur Erinnerung an den
Friedensschluß in Frankfurt a. M. unter Teilnahme
des Kaisers abgehaltenenFeste ihren Abschluß fanden.
Für die Entwicklung des Parteiwesens war das
I. 1895 höchst wichtig. In der Deutschkonserva-
tiven Partei (s. d.) kam es zu lebhaften Kämpfen
zwischen den agrarischen Elementen und den Christ-
lich-Socialen, die damit endeten, daß die Christlich-
Socialen unter Führung des Hofpredigers a. D.
Stöcker aus der Partei ausschieden si. Febr. 1896;
s. Christlich-sociale Partei). Auch die Socialdemo
kratie (s. d.) blieb nicht von innern Kämpfen ver
schont. Nach außen blieb die Partei jedoch einig und
lieh es uamentlich im Militärweseu nicbt an scbarfen
Angriffen auf die Regierung fehlen.
Sehr ereignisreich war das 1.1895 auf dem Ge-
diete der auswärtigen Politik. In dem Kriege zwi-
schen Japan und China hielt Deutschland strikte Neu-
tralität; aber als Japan im Frieden von Simono-
seki China und Korea in seine wirtschaftliche und
polit. Abhängigkeit zu bringen drohte, setzte Deutscb-
land gemeinsam mit Rußland, Frankreich und Spa-
nien eine durcb.
Daß Deutschland hier an der Seite seiner europ.
Gegner den siegreichen Japanern, die in Deutsch-
land viel ^ympatbie fanden, entgegentrat, wurde
vielfach verurteilt, fand aber seine Erklärung darin,
daß Deutschland den Russen und Franzosen die Re-
gelung der ostasiat. Frage uicht allein überlassen
durfte, vielmehr durch seine Mitwirkung deren Vor-
gehen gegen Japan seinen Interessen entsprechend
modifizieren konnte. Der Abschluß einer chines. An-
leihe durch deutsche Häuser und ein deutsch-japcm.
Handelsvertrag, der 4. April 1896 abgeschlossen und
12. Juni auch vom Reichstage angenommen wurde,
waren die Folgen dieser Politik.
In der armenischen Frage (s. Armenien) war
Deutschland weniger interessiert. Es nahm an der
ersten Intervention Englands, Frankreichs und Ruß-
lands (Anfang 1895) keinen Anteil; erst als Anfang
Oktober Straßenkämpfe in Konstantinopel stattfan-
den, beteiligte es sich an den Vorstellungen gegen
die Pforte, und einen Monat später verlangte es
gemeinsam mit den beiden andern Dreibundsmit
gliedern von den beabsichtigten Reformen in Arme-
nien offiziell in Kenntnis gesetzt zu werden. Seit-
dem ging die deutsche Negierung mit den übrigen
Großmächten gemeinsam vor und empfahl der Pforte
wiederholt dringend Reformen zur Beruhigung der
Armenier^ widerstrebte aber einem bewaffneten Druck
am den Sultan, wie ihn England vorschlug.
Brockhaue' Konversations-Lexikon. 14. Aufl.. XVII.
Bald geriet Deutschland auch auf anderm Gebiete
zu England in Gegensatz. Schon lange hatte sich m
England infolge der starken deutschen Konkurrenz in
Industrie und Handel eine antideutsche Stimmung
geltend gemacht, die nach dem Widersprüche Deutsch-
lands gegen den engl.-kongolesischen Vertrag neue
Nahrung erhielt. Zum erstenmal kam sie zu offenem
Ausbruch, als im Sommer 1895 der Kaiser seiner
Großmutter einen Besuch abstattete und dabei mit
taktlosen Artikeln in ministeriellen Blättern ein-
pfangen wurde, worauf deutsche Zeitungen scharfe
Entgegnungen brachten. Viel heftiger aber wurde
der Streit, als Anfang 1890 Deutschland für die
von Beamten der engl. (Harwi oä ^0mz)"u^ über-
fallene Südafrikanische Republik entschieden Partei
nahm. Die deutsche Regierung forderte und erhielt
die Erklärung von der englischen, daß sie die Erpe-
dition mißbillige und die Unabhängigkeit der Buren-
republik nicht antasten wolle. Bereits in diesem Vor-
gebeil erblickten die Engländer eine unberechtigte Ein-
misckung Deutschlands, und als der Kaiser den Präsi-
denten Krüger zu seinem l^iege über die Freibeuter
beglückwünschte, stieg die Erbitterung aufs höchste,
und die eugl. Zeitungen ergingen sich in den heftig-
sten Drohungen und Schmähungen gegen Deutsch-
land. Der Streit batte zwar keine äußern Folgen,
docb blieb ein gewisser Antagonismus zwischen bei-
den Nationen bestehen. Die Haltung der deutschen
Regierung begegnete im Volke wie im Reichstage
ausgesprochener Sympathie.
Sehr fruchtbar war die Reichstagösession von
1895/96. In derselben wurden zunächst mehrere
Gesetzentwürfe angenommen, die teils der Land-
wirtschaft, teils dem kleinen Handelsstande zu gute
kommen sollen, so das Zuckersteuergesetz, das
Vörsengesetz, das Gesetz gegen den unlautern Wett-
bewerb. Ein Gesetzentwurf derselben Tendenz gegen
die künstlichen Ersatzmittel für Butter u. dgl., das
si.^. Margarinegesetz, fand jedoch wegen seiner weit-
gehenden Bestimmungen uicht die Zustimmung des
Bundesrates. Ferner wurde eine Abänderung der
Armeereform von )89^ beschlossen, wodurch die
1.(Halb-)Bataillone in Vollbataillone umgewandelt
werden sollen ^s. Deutsches Heerwesen); sodann das
Depotgesetz, das genaue Vorschriften über die Auf-
bewahrung fremder Wertpapiere enthält, und endlich
wurde die Stellung der kaiferl. Schutztruppen in den
afrik. Kolonien neu geregelt. Weitaus das bedeu-
tendste Ergebnis der Session war jedoch die Annahme
des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Am 17. Jan. 1896 dem
Reichstage vorgelegt, wurde es vom 8. bis 6. Febr.
in erster Lesung behandelt; hierauf fanden eifrige
Kommissionsberatungen statt, und 19. Juni in das
Plenum zur zweiten Lesung zurückgelangt, wurde es
). Juli mit 222 gegen 48 Stimmen in dritter Be-
ratung genehmigt. "Dagegen votierten nur die So-
cialdemokraten, Antisemiten, Elsaß-Lothringer und
einige Konservative. Der Regierungsentwurf blieb
im wesentlichen unverändert; ursprünglich machte
sich zwar eme Apposition von kath. und orthodor-
prot. Seite gegen das Eherecht, namentlich die Civil-
ehe, geltend, indessen wurden alle derartigen Anträge
von principieller Bedeutung abgelehnt. Die öffent-
liche Meinung nahm die Vollendung des großen
nationalen Werkes mit Genugthuung auf, und auch
der Kaiser ließ dem Reichstage durch den Reichskanz-
ler seinen Dank für den bewiesenen Patriotismus
aufsprechen. Die Vollziehung durch kaiserl. Unter-
scbrift erfolgte 18. Aug. 1896.
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