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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Geffcken
Die wichtigste Frage der G. und zugleich diejenige,
auf deren Gebiet in den letzten Jahrzehnten frucht-
bringende Reformen gcfchaffen wurden, ist die der
Ernährung der Gefangenen. Früher war dieGc-
fängniskost fast ausschließlich vegetabilischer Natur,
nur an den drei Hochfesten und am Geburtstag des
Landcsherrn wurde Fleisch gewährt', der Gehalt an
Eiweiß und befonders an Fett blieb weit hinter
dem in einem rationellen Kostmaß zu fordernden
zurück; Kohlehydrate wurden zwar in reichlichern
Mengen gegeben, vermochten aber nur einen sehr
unvollkommenen Ersatz zu bieten. Dazu kam noch,
daß sich infolge der ganz reizlofen, absolut einför-
migen Zubercitungsart der Speisen, die stets in
Form von Brei oder Suppen gereicht wurden, sehr
bald bei den Gefangenen ein Zustand der "Abgc-
gessenheit" entwickelte, in den: schon der Anblick der
Speisen Widerwillen und Ekel, ja Erbrechen her-
vorrief und viele Gefangene längere Zeit fast aus-
schließlich von Brot und Wasser lebten. Die Folge
dieser ungenügenden Ernährung zeigte sich in der
verminderten Leistungsfähigkeit der Gefangenen, in
ihrer geringen Widerstandsfähigkeit gegen Krank-
heiten, z. V. Skorbut, und der hohen Sterbeziffer.
Nach den langen kläglichen Erfahrungen, die man
mit diefcm Kostsystcm gemacht hatte, ging man
dann endlich in der neuern Zeit dazu über, den Ge-
fangenen auch regelmäßig Fleisch (etwa drei- bis
viermal die Woche) zu gewähren und überhaupt
mehr Abwechselung in die Kost zu bringen, was in
der That ganz leicht und billig geschehen konnte.
Die Erfolge waren überraschend. Neben dieser allen
Gefangenen zu gute kommenden Verbesserung der
allgemeinen Gefängniskost hat sich dann noch die
Einführung besondererZulagen für einzelne schwäck-
liche oder durch Krankheit heruntergekommene Indi-
viduen bewährt; so hat man z. V. in Plötzensee mit
großem Vorteil eine als Vergünstigung zu gewäh-
rende sog. Mittelkost eingeführt, bei der neben der
gewöhnlichen Gefängniskost noch täglich 0,51 Milch
oder an fönst fleischfreien Tagen eine Ertrazulage
von 2/4 Pfd. Fleifch in Fleischbrühe gereicht wird.
Ferner ist auch unter Umständen eine individuali-
sierende Behandlung in der Ernährung der Ge-
fangenen nach Ermessen des Anstaltsarztes zu er-
streben. Selbstverständlich muß allen Gefangenen
stets gutes Trinkwasser in ausreichender Menge zur
Verfügung stehen.
Bei der Beschäftigung der Gefangenen muß
als Grundsatz gelten, daß die Arbeit sür sie nicht
eine Strafe und Qual, sondern in erster Linie ein
erziehliches Moment sein soll; daher sind in neuerer
Zeit alle jene nutzlosen Quälereien, wie das Gehen
in der Tretmühle u. s. w., völlig verlassen worden
und nutzbringende, den Fähigkeiten des einzelnen
möglichst individuell angepaßte Arbeiten an deren
Stelle getreten. Ferner sind alle diejenigen früher
üblichen Arbeiten, mit denen notorifch bedeutende
Erkrankungsgefahr verbunden war, wie das Aus-
trocknen von Sümpfen, jetzt mit Recht aufgegeben.
Endlich ist auch allenthalben die öffentliche Straf-
arbeit, bei der der Sträfling vor dem Publikum an
den Pranger gestellt und in seinem Ehrgefühl völlig
vernichtet wurde, verlassen worden und die intra-
nmrane Beschäftigung an deren Stelle getreten.
Von den verschiedenen Systemen des Gefäng-
niswefens ist das Auburnsche Schweigsystem auck
vom hygieinischen Standpunkt aus durchaus zu ver-
werfen, die Isolierhaft dagegen, zumal wegen dcr
Möglichkeit der mehrfach betonten individualisieren-
den Behandlung, zu befürworten; nur eignen sich
manche Personen, z. V. alte schwächliche oder geistig
nicht ganz normale Individuen, nicht zur Isolier-
baft; auch ist bei Anzeichen ernsterer Störungen die
Isolierhaft sofort zu unterbrechen und durch Kol-
lektivhaft zu erfetzen. Bei sorgfältiger Kontrolle
durch den Anstaltsarzt und event, in Abwechselung
mit dem Kollektivgewahrsam ist jedoch die Isolier-
haft hygieinisch nicht zu beanstanden.
Disciplinarstrafen sind im Gefängnis bei
dcr moralischen Minderwertigkeit der Sträflinge
durchaus unentbehrlich; nur hat die Hygieine darauf
zu achten, daß durch diefe Strafen nicht ein bleiben-
der Schaden für die Gesundheit des Sträflings
entsteht. Die früher üblichen graufamen Discipli-
narstrafen (Krummschließen, Lattenarrest, körperliche
Züchtigung bis zu 90 Streichen) sind jetzt mit Recht
^ aufgegeben; Entziehung besonderer Kostvergünsti-
gungen, Kostschmälerungcn auf wenige Tage sind
durchaus unbedenklich, langandauernde Verringe-
rung dcr Ernährung dagegen wegen der drohenden
Erschöpfung absolut unstatthaft. Dunkelarrest ist
eine sehr schwere Strafe, die bei psychisch nicht ganz
intakten Gefangenen sogar geistige Störungen zum
Ausbruch bringen kann; Dunkelarrest ist daher nur
auf kurze Zeit und nur nach Befragung des Arztes
zu verhängen. Die Prügelstrafe endlich wird nur
im äußersten Fall, und auch dann nur mit Zustim-
mung des Arztes und nach vorgängiger Unter-
suchung des Gefangenen angewandt; in diesen sel-
tenen Fällen mag sie gewissen abgestumpften Ele-
menten gegenüber unentbehrlich und vom hygiei-
nischen Standpunkt aus jedenfalls weniger zu be-
anstanden sein als langdauernde Hungerstrafen.
Die Sterblichkeits- und Krankheitsziffcr
in dcn Gefängnissen war früher, wo das höchst an-
steckende Kcrkerfieber (Flecktyphus) und der Skorbut
in den Anstalten wüteten, erschreckend hoch; auch
jetzt übertrifft sie die Mortalität der freilebenden
Bevölkerung noch beträchtlich. Nur ist allerdings
nicht zu vergessen, daß die Belegschaft der Gefäng-
nisse sich erstens größtenteils aus den niedern Be-
völkcrungsschichtcn zusammensetzt, denen ohnehin
eine größere Sterblichkeitsziffer zukommt, und daß
es sich zweitens meist um Elemente handelt, die
durch Krankheit, Elend, vagierendes Leben, Aus-
schweifungen in ihrer Widerstandsfähigkeit erheblich
reduziert, oft auch schon erblich in schwerster Weise
belastet sind. Dies gilt insbesondere von den geisti-
gen Störungen, die in auffallend hoher Anzahl in
Strafanstalten vorkommen. Immerhin thun die
ungünstigen Verhältnisse des Gefängnislebens un-
zweifelhaft noch das ihrige, um die Sterblichkeit zu
erhöhen; insbesondere fordert die Lungentuberkulose
im Gefängnis viele Opfer, sei es durch verminderte
Widerstandsfähigkeit gegen diese Erkrankung, sei es
durch im Gefängnis erworbene Infektion, zu der
leider uur zu reichliche Gelegenheit gegeben ist;
wahrscheinlich wirken beide Faktoren zusammen;
ihr verderblicher Einfluß erstreckt sich auch noch auf
die aus dcn Strafanstalten Entlassenen.
Vgl. Vaer, Artikel Gcfängnishygieine im "Hand-
buch der Hygieine" von Pettenkofer und von Ziemssen
(3. Aufl., Lpz. 1882).
* Geffcken, Friedr. Heinr., lebte seit Okt. 1889
in München, wo er in der Nacht zum 1. Mai 1896
infolge eines durch die Explosion einer Petroleum-
lampe entstandenen Zimmerbrandes erstickte.