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Brockhaus Konversationslexikon

Autorenkollektiv, F. A. Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896

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Indische Religionen

einen Lohn gäbe, bestritt also jede sittliche Weltordnung, in geradem Gegensatz zu der herrschenden Lehre des Brahmanismus, der an seine Anhänger hohe sittliche Anforderungen stellte und ihnen eine große Anzahl religiöser Pflichten auferlegte, die bis auf den heutigen Tag meist streng beachtet werden und in den Gṛhyasūtra (s. Sūtra, Bd. 15) und den Gesetzbüchern aufgezeichnet sind. Der Brahmanismus forderte ein streng sittliches Leben und legte für Verstoße dagegen Bußen und Sühnungen auf; in zweifelhaften Fällen entschieden Gottesurteile (vgl. Schlagintweit, Die Gottesurteile der Indier, Münch. 1866). Die zehn Gebote, die für alle vier Kasten gelten, werden zusammengefaßt unter die fünf Regeln: kein lebendes Wesen zu beschädigen, die Wahrheit zu sprechen, nicht zu stehlen, rein zu sein und die Leidenschaften zu bezähmen. Die täglichen Gebete, Darbringungen und Waschungen waren streng geregelt; es wird gefordert, daß jeder sich in seiner Kaste halte und die Brahmanen, "die Götter auf Erden", als höchste und beste Kaste anerkenne. Trotz allem aber war von einem priesterlichen Druck im Brahmanismus nicht viel zu spüren.

Am Ende dieser Periode, zur Zeit als Buddha und Mahāvīra auftraten, befand sich Indien in sehr günstigen Verhältnissen. Wir finden mächtige Fürsten, Staaten mit wohlgeordneten Finanzen und vortrefflicher Rechtspflege, in denen Handel und Gewerbe blühten. Das Leben war ein üppiges und fröhliches. Von dem Zuge der Wehmut und Entsagung, der durch einen Teil der Litteratur dieser Zeit geht, ist in der Schilderung des öffentlichen Lebens nichts zu spüren. Ein Erlöser des Volks war also nicht nötig, und als solchen Buddha aufzufassen, wie es lange geschehen ist, ist durchaus verkehrt. Buddha war, wie erwähnt, nur einer unter vielen Lehrern, die damals in Indien auftraten. Er war ein philosophisch gebildeter Mann, und seine Lehre knüpft unmittelbar an die Systeme des Sāṃkhya und Yōga an und hat zum Teil genau dieselben technischen Ausdrücke wie die Upanishad. So findet mau bei ihm die oben erwähnten Ausdrücke "Nichtwissen", "Begehren", "Name", "Form" alle wieder, und seine Lehre, die in dem Worte Nibbāna (Sanskrit Nirvāṇa) gipfelt, hat kein anderes Ziel als die Vernichtung der Seelenwanderung, ist also eine rein indische und muß als solche beurteilt werden. Buddha war auch nicht der erste, der die Autorität der heiligen Schriften der Brahmanen, der Veda, verwarf. Das hatten lange vor ihm andere gethan, wie Kautsa, der die Veden für sinnlos erklärt hatte. Was Buddha seinen großen Erfolg verschaffte, war gewiß in erster Linie seine ganze Persönlichkeit, die Art seines Verkehrs mit dem Volke und die Gunst der Fürsten, deren er sich zu erfreuen hatte. Daß der Buddhismus schließlich ganz aus Indien vertrieben wurde, daran trägt vor allem die Spaltung in Sekten und Verfolgungen durch brahmanisch gesinnte Könige die Schuld, seinen Hauptsitz hatte er in Magadha, dem Heimatlande Buddhas, gehabt, überhaupt im östl. Indien, einschließlich Bengalen. Gerade in Bengalen aber kam seit dem 7. Jahrh. n. Chr., veranlaßt durch Brahmanen, die König Ādisūra aus Kanaudsch im nordwestl. Indien hatte herbeiholen lassen, eine antibuddhistische Bewegung in Gang, die mit dem Siege des Vishṇuismus endete. Die Vishṇuiten verstanden es, Buddha als einen Avatāra (s. d., Bd. 2) des Vishṇu ihrem religiösen System einzuordnen, und bei den Dichtern des 11. und 12. Jahrh. erscheint Buddha als neunte Verkörperung des Vishṇu. In den Tempeln von Ceylon siebt das Bild des Vishṇu neben dem Buddhas, und Vishṇu gilt als der Patron der Insel. Heute giebt es im eigentlichen Indien keine Buddhisten mehr. Von den über 7 Millionen, die der Census auffuhrt, kommen fast 6900000 auf das 1886 annektierte Birma, der Rest auf die Grenzländer bei Birma und die Länder am Fuße des Himalaja. Um so größere Verbreitung hat er außerhalb Indiens gefunden, freilich in einer Gestalt, die die ursprüngliche Lehre kaum noch erkennen läßt.

Die Entartung tritt am deutlichsten hervor im Kultus. Buddha hatte die Volksgötter bestehen lassen, ihnen aber eine untergeordnete Rolle zugewiesen. Brahma Sahampati und seine Götterwelt erscheinen beständig in buddhistischen Schriften. Wenn ein frommer Buddhist in Gefahr ist, wird der Thron des Indra heiß; Indra muß aufstehen und dem Bedrängten zu Hilfe kommen. Als böses Princip erscheint Māra, der Todesgott, dessen Gestalt im Laufe der Zeit immer realistischer geworden ist (vgl. Windisch, Māra und Buddha, Lpz. 1895). Aber alle Götter traten ganz zurück hinter dem Buddha selbst; einen eigentlichen Kultus kannte der alte Buddhismus nicht. Fast die einzige Feier war die des Upōsatha, d. h. Fasttages, die zweimal im Monat stattfand, zur Zeit des Voll- und des Neumondes. Auf Ansage des Ältesten versammelten sich sämtliche Mönche eines Distrikts an einem bestimmten Orte; selbst Kranke brachte man dahin, wenn sich keine geeignete Person fand, die die Erklärungen des Kranken überbringen konnte, oder die Gemeinde versammelte sich am Krankenbett. In dieser Versammlung, an der nur Mönche teilnehmen durften, wurde der Pātimokkha vorgetragen, ein Werk, das wohl das älteste des ganzen Tipiṭaka (s. d., Bd. 15) ist. Es enthält ein Verzeichnis von mehr als 200 Verstößen gegen die Sittlichkeit und Ordenszucht; jeder Mönch, der sich eines dieser Verstöße bewußt war, mußte dies bekennen, worauf ihm eine Sühne auferlegt wurde. Außer der Upōsathafeier gab es nur noch eine jährlich einmal wiederkehrende Feier, die Pavāraṇā, "Einladung". Sie fand statt am Ende der Regenzeit. Jeder Mönch bat in ehrfurchtsvoller Haltung am Boden sitzend seine Brüder, ihm anzugeben, ob er irgend etwas gefehlt habe, und versprach dies zu sühnen. Da der Buddhismus keinen Gott kannte, mußte ihm auch das Gebet fremd sein. Sehr frühzeitig aber kam die Verehrung heiliger Stätten und von Reliquien auf. Schon sehr alte Texte sprechen davon, daß vier Orte wert seien gesehen zu werden, der Geburtsort Buddhas, der Ort, wo er die Erleuchtung empfing, wo er zuerst gepredigt und wo er ins Nirvāṇa eingegangen sei, und die Pilgerfahrt dahin wird als verdienstlich gepriesen. Es wird ferner berichtet, daß unmittelbar nach Buddhas Tode seine Reliquien an mehrere Fürsten und Adlige verteilt wurden, die darüber Topen (s. d., Bd. 15) errichteten und ihnen zu Ehren ein Fest feierten. Diese älteste Art der Reliquienverehrung war also keine kirchliche, sondern eine private, und das blieb sie noch lange. Der große Glaubensheld der südl. Buddhisten, Açōka (s. d., Bd. 1), im 3. Jahrh. v. Chr. berichtet in der vierten seiner Inschriften, daß er dem Volke Götterwagen, Elefanten und andere göttliche Schauspiele gezeigt habe unter dem Schall der Trommeln. Der König also ist es auch hier, der die Feier einrichtet, nicht die Geistlichkeit. Aus dem 7. Jahrh. n. Chr. erfahren