Anmerkung: Fortsetzung des Artikels 'Chinagras - Nesselfaser - Ramee'
der Nesselfaser, doch sind auch darin in neuester Zeit bedeutende Fortschritte gemacht worden.
Der Anbau der Nessel ist jetzt beinahe über die ganze Erde mit
Ausnahme der nördlicheren Gegenden verbreitet. Im Stammlande China wird vorwiegend
Urtica oder Boehmeria nivea gezogen und gestaltet sich dort Kultur und Fasergewinnung folgendermaßen.
Die Anlage einer Plantage erfolgt mit Stecklingen oder durch Wurzelteilung, nicht durch Aussaat.
Das Land wird gut bearbeitet und mit Bewässerung versehen. Die Pflanzen treiben von der Wurzel aus
lange gerade, fast gar nicht verästelte Schößlinge, welche, wenn sie 1-1,2 m lang geworden sind,
jedenfalls aber vor der Samenreife geschnitten werden. Die Pflanzungen bleiben 7-8 Jahre
ertragsfähig und ergeben jährlich 4-5 Schnitte. Von den grünen Stengeln streift man sogleich
Blätter und Oberhaut ab und gewinnt die Fasern durch leichtes Rösten und vielfach wiederholtes
Waschen. Sie sind hiernach 0,5-1,0 und 1,2 m lang, rein weiß, weich und haben seidenartigen Glanz.
Durch mit großer Sorgfalt ausgeführtes Zusammendrehen entstehen Fäden, welche zu den chinesischen
Grasleinen verwebt werden. Wie bedeutend die Kultur der Nesseln in China ist, ergibt sich daraus,
daß die Ausfuhr an rohen Fasern 1872 bereits 3500000 kg, an Grass-cloth 10992250 k betrug. Man
schätzt die ganze Produktion Chinas jetzt auf jährlich 100000000 kg; die Ausfuhr an rohen Fasern
auf 4000000 kg. In Japan wird für die feinsten Gewebe ebenfalls
U. nivea, daneben auch U. japonica angebaut. In Indien finden wir fast alle verschiedenen Urticeen
vertreten, doch scheint man sich in neurer Zeit in ausgedehnterem Maße ebenfalls auf U. nivea zu
werfen. U. tenacissima liefert das unter dem Namen Rhea im Handel
bekannte Material. Dieselbe Species ist auch in Java,
Borneo, Sumatra heimisch
und führen die Fasern den malaiischen Namen Ramee oder
Ramie. In allen diesen Ländern ist der Anbau der Nessel seit
langer Zeit und ohne Unterbrechung getrieben worden. Neu in die Kultur eingetreten sind
Nordamerika, Mexico,
Cuba, wo vorwiegend U. postulata gebaut wird, die
mittelamerikanischen Länder,
Brasilien, Australien.
Große und gegenwärtig von Erfolg gekrönte Bestrebungen hat
Frankreich gemacht, um den Anbau von U. nivea in den südlichen
Provinzen und in Algier heimisch zu machen. Die Plantagen in
letzterer Kolonie ergeben bei drei Schnitten im Jahre eine sehr gute Faser. In Deutschland sind
auch einige Versuche mit dem Anbau von U. dioica und urens unternommen worden. - U. nivea eignet
sich nicht, da die Wurzelstöcke den Frost nicht aushalten - doch ist die Produktion z. Z. für den
Weltmarkt ohne jede Bedeutung. Der Anbau der Nessel dürfte sich aber in Zukunft heben, da seit
Entstehung der "Ersten deutschen Chinagrasmanufaktur"
(F. E. Seidel u. Co.) in Zittau auf einen sicheren Absatz der
gewonnenen Faser gerechnet werden kann und die Rentabilität der Kultur eine sehr gute sein soll.
Es wird von verschiedenen Seiten angegeben, daß der Ertrag für 1 Hektare jährlich 500-600 Mk.
↔
beträgt. Die Pflanzung bleibt 6-8 Jahre ertragsfähig und erfordert während dieser Zeit sehr wenig
Auslagen für die Unterhaltung, keine für Samen. Dadurch dürfte sich die Kultur der Nessel rentabler
erweisen, als Getreidebau. - Die Qualität der Faser ist wesentlich abhängig von der größeren oder
geringeren Sorgfalt bei der Kultur der Pflanze und von dem richtigen Zeitpunkte des Schnittes der
Stengel. Ein und dieselbe Nesselart liefert bei verschiedener Pflege sehr verschiedenwertige Fasern.
Die Unterschiede werden durch die Handelsklassifikation bereits berücksichtigt. Vor der Samenreife
geschnittne Stengel liefern ein besseres Material als nachher geschnittne. Die Fasern ausgereifter
Stengel sind weit spröder. - Die Verarbeitung der Nesselfaser mit Maschinen hat bisher noch ziemlich
viele Schwierigkeiten verursacht; die Nesselspinnerei ist auch heute noch nicht aus dem
Versuchsstadium heraus. Die größte Schwierigkeit bietet die Isolierung der Fasern; doch scheint die
Aufgabe einem Berichte der französischen Regierung zufolge nunmehr durch ein in Algier verwendetes,
durch ein in Belgien übliches und durch ein der obengenannten Manufaktur im Deutschen Reiche
patentiertes Verfahren gelöst. Das Verspinnen geschah anfänglich wie bei Flachs. Da aber die
erzielten Resultate nicht sehr befriedigend waren, so versuchte man Nessel wie Baumwolle und später
wie Kammgarn zu verspinnen. Der letztere Weg scheint der beste zu sein. England, das Mutterland der
mechanischen Spinnerei, steht auch bezüglich der Versuche mit Chinagras in erster Linie. Doch haben
sich auch Frankreich und Deutschland, neuerdings auch Amerika bemüht, Verbesserungen in dem
Spinnverfahren und an den einzelnen Maschinen zu schaffen. In Deutschland sind Versuche, die
Nesselfaser zu verspinnen, schon früher verschiedentlich gemacht worden (Erdmannsdorfer
Flachsspinnerei; H. Lindenberg in Crimmitschau; H. Kohlhase, Chemnitz; Oldenburger Spinnerei;
Jutespinnerei Vechelde) aber meist Versuche geblieben. Die erste deutsche Chinagrasmanufaktur
spinnt gegenwärtig bereits Garne Nr. 40-50; bald dürfte auch Nr. 100 erreicht werden. (Nummerierung
wie bei Flachsgarn.) Hauptsitz der Fabrikation ist gegenwärtig Leeds in England. Verwendung findet
die Nesselfaser jetzt zu Posamentierarbeiten (Franzen, Schnuren, Borden etc.) als Verzierungsmaterial
bei Geweben, denn die Weiße und der außerordentliche Glanz der Faser läßt sie selbst auf weißem
Grund noch vollkommen hervortreten. (Chales von D. S. Lehmann mit Chinalancé; Damastgewebe von
Girardowo in Polen mit Nesselgarneinschlag.) Dann werden auch Gewebe aus Nesselgarn allein, ebenso
gewirkte Waren, Strümpfe, Leibchen etc. hergestellt. Die Engländer fertigen sogar Plüsch und Samte
nach Art der baumwollnen Samte daraus an. - Verzollung: Chinagras zollfrei; Gespinste je nach
Gattung und Feinheit gemäß Zolltarif im Anhang Nr. 22 a oder b; Gewebe und zwar Damast Nr. 22 g;
Plüsche, Samt, Posamentierwaren, gewirkte Waren Nr. 22 h; andere Gewebe Nr. 22 e und f.