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Illustrierte Kunstgeschichte

Johannes Emmer, Deutsche Volksbibliothek A.-G., Berlin, ohne Jahr [1901]

Schlagworte auf dieser Seite: Die hellenische Kunst

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Die hellenische Kunst.

stimmten Augenblick im Laufe der Bewegung auf; die Kunst des Phidias that den letzten Schritt zur Vollendung, indem sie den Eindruck hervorruft, die Bewegung gehe vor sich. Ich möchte, um dies zu verdeutlichen, etwa sagen: die Archaisten gaben toten Körpern die Haltung, welche einer Bewegung entspricht; Myron läßt den Körper in einem Augenblick der Bewegung erstarren; die neue Kunst giebt volle Lebendigkeit. An dem Diskoswerfer Myrons laßt sich dies vielleicht näher erläutern. Aeltere Künstler hätten nicht vermocht diese Haltung zu geben, welche die Anstrengung der Muskeln und das Atmen dabei zum Ausdruck bringt. Der Jüngling erscheint jedoch in der Stellung, welche dem Wurfe vorangeht; es ist der kurze Augenblick der Ruhe zwischen der Rückwärtsbewegung des Arms zum Schwung und der Vorwärtsbewegung zum Wurfe. Phidias würde, wenn er diesen Vorwurf dargestellt hätte, dagegen jene Stellung gewählt haben, welche diesem Augenblick der Ruhe vorhergeht oder folgt, also das Auslaufen der Schwungbewegung oder den Beginn des Wurfes.

Der Ausdruck der inneren Bewegung. Polyklet brachte in den Köpfen seiner Gestalten zwar auch schon eine gewisse Stimmung zum Ausdruck, immerhin bleibt ihm aber die reine Form die Hauptsache; bei Phidias prägt sich im Antlitz nicht nur der Gedanke aus, welcher dem dargestellten Vorgang entspricht, sondern auch die seelische Eigenart des Dargestellten. Bei den älteren Werken kann man aus der Gestalt allein heraus - wenn nicht äußere Beigaben vorhanden sind - nicht erkennen, ob ein Gott oder ein Mensch dargestellt ist, bei Phidias sind Götter und Menschen in ihrem Wesen scharf gekennzeichnet. - Von beiden Künstlern kennen wir eine Figur eines Diadumenos (Wettkämpfer, der sich die Siegesbinde umlegt, beziehungsweise sie trägt); ein Vergleich dieser beiden Figuren, insbesondere aber der Köpfe, lehrt am besten den Unterschied zwischen den Meistern.

Die Schulen der drei Meister. Die griechische Bildnerei hatte nun die festen Grundlagen gewonnen, auf welchen sich alle weitere Kunstthätigkeit bewegen mußte. Myron hatte die Formgebung, Phidias die geistige Auffassung, Polyklet das Gesetzmäßige zur vollen Ausbildung gebracht. Es ist leicht verständlich, daß in der nächsten Folgezeit Myron eigentlich größeren Einfluß übte, als Phidias; denn das Aeußerliche läßt sich leichter nachahmen und nachlernen, als das Innerliche. Auch griff man noch vielfach auf ältere archaistische Vorbilder zurück. Als hervorragende Schüler des Phidias erscheinen Alkamenes und Agorakritos; während Lykios, der Sohn Myrons, seinem Vater folgte, ebenso auch Strongylion. Eine selbständige Eigenart bekundete Kresilas, der mit verständiger Ueberlegung und gewissenhafter Sorgfalt seine Werke bildet, aber im geistigen Ausdruck zurückbleibt. Auch Kallimachos, dem die Erfindung des korinthischen Kapitäls zugeschrieben wird, hatte großen Ruf; er war übertrieben im Streben nach Genauigkeit, und der römische Kunstgeschichtsschreiber Plinius führt ihn als warnendes Beispiel an, "daß man auch in der Genauigkeit Maß halten solle". Auf dem Peloponnes blieb die Schule Polyklets von maßgebendem Einfluß, die vorwiegend in Erz arbeitete.

Die Bildnerei zu Ende des 5. Jahrhunderts. Von den meisten erhaltenen Werken aus dem Ende des 5. Jahrhunderts sind die Urheber unbekannt; sie geben aber ein deutliches Bild von der reichen Kunstthätigkeit, welche

^[Abb.: Fig. 103. Apollon in Neapel. (Nach Photographie.)]